Geschichte

PASCHA TICHOMIROW (der Räuber)

[Geheime Wege des HERRN]

Die spannende, wahre Geschichte der Beckehrung einer Räuberbande durch das Lesen eines Neuen Testaments. Aus dem Russischem übersetzt (Christian Unity Press York, Nebraska 68467, U.S.A)

 

Seinen Spitznamen "Smoljonyj" (Schmierfink) erhielt Pawel, als er acht Jahre alt war unter besonderen Umständen, von denen später noch die Rede sein wird. Sein eigentlicher Familienname war Tichomirow. Er war der Sohn eines Bauern aus einem der ärmsten Dörfer des Gouvernements Mogilew. Die Familie bestand aus Vater Mutter und zwei kleinen Kindern - der zehnjährigen Schura und dem achtjährigen Pascha. Sie lebten in Eintracht, waren religiös nach rechtgläubiger Art und erfreuten sich der Achtung nicht nur der Bewohner ihres eigenen Dorfes, sondern auch des ganzes Kirchspiels. An Feiertagen besuchte sie sogar der Ortsgeistliche, um mit dem Vater Karten zu spielen.*
*Anmerkung der Redaktion: Wir dürfen wohl bei jedem Leser voraussetzen, dass wir die geschilderten Verhältnisse nicht unbedingt als christlich ansehen.

Sie spielten nicht um Geld, sondern lediglich zum Zeitvertreib, bald "Duratschki" (Schafskopf), bald das sogenannte "Nasenspiel", bei welchem es üblich war, dass der Verspieler sich mit den Karten auf die Nase schlagen lassen musste. Wenn einer von den beiden Spielern Geld bei sich hatte, wurden die Kinder nach Branntwein geschickt; alle gerieten in fröhliche Stimmung, und der Priester, allgemein "Väterchen" genannt, pflegte dann zu sagen: "Mit Maß trinken ist keine Sünde; selbst der Herr Jesus hat die Freude geliebt und auf der Hochzeit zu Kana das Wasser in Wein verwandelt." - Die Kinder standen dabei und beobachteten mit Interesse, wie die Nase des Priesters allmählich sich rötete, sei es von dem Branntweingenuss oder von dem Kartenschlagen, die ihm der Vater, der meistens das Spiel gewann, geschickt verabfolgte. Der gutmütige Priester sagte dann mit krächzender Stimme: "Wer bis ans Ende beharrt, der wird selig; auch an mich wird einmal die Reihe kommen; dann nimm dich in acht, mein Lieber; es steht geschrieben: "Seid niemand nichts schuldig" und: "Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden."


Aber gar bald nahm dieses fröhliche Leben ein Ende. Mehrere aufeinanderfolgende Mißernten zwangen die Bauern des Dorfes Sosnowka, an die Übersiedlung nach Sibirien zu denken. Gruppenweise besprachen sie diese Angelegenheit, und endlich beschloss man, Boten auszusenden, die in einem der sibirischen Gouvernemente ein geeignetes Stück Land ausfindig machen sollten. In die Zahl dieser Landsucher wurde auch Tichomirow gewählt, weil er ein kluger und geschickter Mann war. Nach drei Monaten kamen die Boten zurück. Sie hatten im Gouvernement Tomsk Land gefunden. Nach dem die Übersiedler ihr Hab und Gut veräußert hatten, begaben sie sich auf den Weg. In einem der vielen langen Übersiedlungszügen nahmen die Bauern aus Sosnowka einige Wagen ein. Das geschah im Jahre 1897.


Während der Fahrt hatten die nur langsam vorwärtskommenden Züge einige längere Aufenthalte auf den Um-steigebahnhöfen Samara, Tscheljabinsk und Omsk. Wochenlang mussten die Übersiedler hier auf die Züge zur Weiterreise warten und Tag und Nacht in den engen Bahnhofsräumen auf dem Fußboden liegend zubringen. Das abgekochte Wasser in den Behältern reichte nicht für alle aus; das warme Essen in den Büffets konnten sie sich nicht leisten; so stürzten sich dann die armen, hungrigen Menschen auf getrocknete Heringe und gedörrte Fische und tranken ungekochtes Wasser. Die Folge war, dass sich zuerst Magenerkrankungen und dann die Cholera einstellten. Es wurden hauptsächlich Erwachsene von der Epidemie befallen. Auf der letzten Strecke vor Tomsk erkrankte auch Tichomirow. Alle Anzeichen deuteten auf Cholera. Zum entsetzen seiner Frau und der Kinder wurde er auf einer Station aus dem Zuge geholt und in eine Baracke für ansteckende Krankheiten gebracht. Selbstverständlich verließ auch Frau Tichomirow mit den Kindern den Zug und richtete sich unweit der Baracke hinter den an der Eisenbahnstrecke aufgestellten Schneeschutzwänden ein, um sich täglich nach dem Befinden ihres Mannes zu erkundigen. Mit jedem Male wurde die Auskunft trauriger. So vergingen drei Tage, da erklärte die von Leid geschlagene Mutter ihren Kindern, dass auch sie krank sei. Eine herzzerreißende Szene folgte nun, als die Krankenträger den weinenden Kindern die geliebte Mutter entreißen mussten. Mit ihr verloren sie die letzte Stütze. Schweren Herzens trennte sich die Mutter von ihren Kindern, denn sie ahnte, dass sie sie nie wieder sehen würde. Aber schrecklicher als der Tod war für sie der Gedanke, dass ihre geliebten Kinder nun in einer fremden Gegend vollkommen verwaisen sollten.


Nun wurde auch die Mutter in die Baracke gebracht. Schreiend liefen die Kinder hinter den Trägern her, bis die schwere Barackentür vor ihnen zugeschlagen wurde. Wie einsam und unglücklich kamen sich nun Schura und Pawel vor. Wie unsinnig rannten sie um die Baracke, bald nach dem Vater, bald nach der Mutter rufend . . . Als Antwort bekamen sie nur die rohen Zurufe der Wächter zu hören, die ihnen mit Schlagen drohten, falls sie nicht von der Baracke weichen würden. Aber die Kinder hörten nicht auf zu schreien und um Einlass zu flehen. Sie wollten mit den Eltern sterben, ohne die sie nicht mehr leben mochten. So umliefen sie die Baracke bis zum späten Abend, und erst die kalte Nacht zwang sie, an die warmen Kleider zu denken, die sie mit den anderen Sachen bei den Schneeschutzwänden zurückgelassen hatten. Als sie an der Stelle ankamen, wo sie zuletzt mit ihrer Mutter vor deren Erkrankung gehaust hatten fanden sie auch nicht die Spur von dem Gepäck; scheinbar hatte es irgend jemand nach den ärmlichen Habseligkeiten der Übersiedler gelüstet . . .


Die Kinder verkrochen sich zwischen die Schneeschutzwände und schmiegten sich eng zusammen, um sich einiger maßen zu erwärmen. Schura, als die ältere, war sehr besorgt um ihr Brüderchen; bis zum Tagesanbruch tat sie kein Auge zu, und die Nacht dünkte sie eine Ewigkeit. Kaum war Pascha erwacht, da eilten die Kinder wieder zur Baracke. Der erste Wächter, den sie dort trafen, sagte zu ihnen: "Kommt nicht wieder; heute morgen haben wir die Leiche eures Vaters hinausgetragen, und auch eure Mutter wird wohl heute noch sterben."


Es war unmöglich, die Kinder zu bewegen, sich von der Baracke zu entfernen. Immer wieder schauten sie durch die Fenster und riefen nach der Mutter. Sollte denn für immer ihre traute Stimme schweigen, würde auch sie am Abend nur eine kalte Leiche sein?


Ja, am Abend erfuhren sie, dass auch die Mutter gestorben sei. Sich gegenseitig umarmend, saßen sie bei den Schneeschutzwänden und weinten bitterlich. In dieser Nacht schlief auch Pascha nicht, er weinte unaufhörlich und sehnte sich nach den geliebten Eltern. Mit dem Rücken den Schneeschutzwänden zugewandt, schaute er auf die sich in der Ferne verlierenden Eisenbahnschienen und durchlebte noch einmal in seiner Kindesvorstellung qualvoll all die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage. Endlich sagte er, als er den herannahenden Zug erblickte: Schura, ich will nicht mehr leben ohne Vater und Mutter. Komm, wir legen uns auf die Schienen. Die Lokomotive mag uns zerdrücken, dann sind wir tot. Wozu sollen wir noch leben? Wem können wir noch etwas nützen?" Bei diesen Worten ergriff Pascha seine Schwester bei der Hand und zerrte sie zum Bahnkörper. Schura wurde vom Entsetzen gepackt. Sie umarmte ihr Brüderchen und rief schluchzend: "Nein, um nichts in der Welt gehe ich unter den Zug und lasse auch dich nicht ... Ich fürchte mich ... Es ist schrecklich!" - "Lass mich, ich laufe dann allein hin!" schrie der Knabe.


Während sie noch miteinander redeten, brauste der Zug an ihnen vorüber. Pascha warf sich mit dem Gesicht auf die Erde und fing an, laut zu klagen: "Warum hast du mich zurückgehalten? Ich will nicht mehr leben!" Sein verständiges Schwesterchen redete jedoch freundlich auf ihn ein, um ihn zu bewegen, von seinen finsteren Gedanken zu lassen. Es dauerte lange, bis er endlich ruhig wurde und versprach, nicht mehr an den Tod zu denken und sie nicht allein zu lassen auf dieser Welt.


Darauf setzten sich die Kinder, eng aneinandergeschmiegt, wieder in ihren Schlupfwinkel und warteten den Tagesanbruch ab. Sie beschlossen, morgens zum Grabe ihrer Eltern zu gehen. Unendlich lange zog sich die kalte Nacht für die frierenden und hungrigen Kinder hin. Als endlich der Morgen anbrach, eilten die beiden zum Friedhof, wo in einer besonders abgeteilten Ecke die an ansteckenden Krankheiten Verstorbenen beerdigt wurden. An der Pforte baten die Kinder den Friedhofswärter um Einlass und fragten ihn nach dem Grabe ihrer Eltern. Aber er antwortete ihnen in harschem Ton: "Wie viel Leichen sind allein in dieser Nacht hergebracht worden! Wie kann ich wissen, wen man hier beerdigt! Außerdem wirft man etwa zehn Tote in ein Loch, manchmal sogar zwanzig!"
Da sie nichts erreichen konnten, schauten sie mit verweinten Augen durch die Ritzen des Zaunes hinüber zu den in unordentlichen Gruppen liegenden Grabhügeln aus nassem Lehm. Lange standen sie dort, weinend und auf die Gräber blickend, bis der Wärter sie forttrieb. Hand in Hand, vom Kummer niedergedrückt, gingen die Kinder schweigend zurück zu den Schneeschutzwänden, den Zeugen ihrer schweren Erlebnisse während der letzten fünf Tage und der Trennung von ihrer geliebten Mutter. Dieser Ort war für sie, die gänzlich verwaisten, zur zweiten Heimat geworden. Unter dem Schutz der Wände ringen sie nun an zu überlegen, was sie weiter tun sollten. Bei dem Gedanken, dass sie nun in eine Waisenbaracke geraten könnten, wurde ihnen bange, und doch erkannten sie, dass das ihre Rettung vor dem Hunger sein würde, der sich mehr und mehr bemerkbar machte. Ihr geringer Lebensmittelvorrat sowie ihr letztes Bargeld, war ihnen mit dem Gepäck zusammen verlorengegangen.
Angst beschlich die einsamen Kinder, sie waren hungrig und froren. Hoch über ihnen sangen die Lerchen fröhlich ihre Frühlingslieder, die hellen Sonnenstrahlen vergoldeten alles ringsumher -, nur in den Herzen der beiden Waisen war es dunkle Nacht. Das Leid hatte die Geschwister inniger miteinander verbunden. Schura versuchte, ihrem kleinen Bruder die Mutter zu ersetzen: sie liebkoste ihn und tröstete ihn mit folgenden Worten: "Wir wollen nicht verzagen, mein Lieber! Gott wird uns nicht verlassen!"


Schon hatten die Kinder beschlossen, in das dem Bahnhof nächstliegende Dorf zu gehen und um ein Stück Brot zu bitten, als sie plötzlich über sich einen rohen Zuruf hörten: "Was tut ihr hier? Wem gehört ihr?" Vor ihnen tauchte ein unbekannter Mann in Uniform auf und sah sie forschend an. Sie wurden ganz verwirrt, so dass sie nicht sofort sagen konnten, dass sie Kinder von Übersiedlern seien und daß sie ihre Eltern vor kurzem verloren hatten. Der Unbekannte befahl ihnen, ihm zu folgen und führte sie in das Verteilungslager. Hier wurden sie sofort für die Waisenbaracke bestimmt, wohin sie ungern gewollt hatten, weil ihnen da die Trennung drohte; denn die Baracke für Mädchen befand sich einige Bahnstationen von hier entfernt. Aber ungeachtet der Bitten und Tränen der Kinder, wurde Pascha nach der etwa drei Kilometer entfernten Baracke für Knaben gebracht, während Schura mit dem nächsten Zug bis zu jener Station fahren musste, in deren Nähe die Mädchenbaracke lag. Man kann sich leicht den Trennungsschmerz der Kinder vorstellen; verlor doch jedes in dem anderen alles, was ihm auf dieser Erde noch teuer war.


Pascha kam in eine Baracke, in der bereits dreihundert Knaben untergebracht waren. Viele von ihnen lebten hier schon lange; sie hatten sich an die neuen Verhältnisse gewöhnt und waren recht ausgelassen. Mit Spaßen, derben Püffen und Stößen wurde der Neuling von den Knaben begrüßt. Bereits nach einer Woche beschäftigte Pascha nur noch der Gedanke an eine Flucht aus der Baracke. Die ganze Umgebung, die Gleichgültigkeit gegenüber den Nöten der Kinder, die Roheit vieler Zöglinge, ihr Zank und Streit sowie die widerliche Fastensuppe zu jeder Mahlzeit waren ihm unerträglich. Nun wartete er auf einen geeigneten Augenblick für die Flucht. Es war den Knaben verboten, die Baracke ohne Begleitung zu verlassen. Aber Pascha durfte nicht säumen. In einer dunklen Nacht ging er hinaus, kletterte an einer niedrigen Stelle über den Bretterzaun und lief wie gehetzt in die der Eisenbahnstrecke entgegenliegenden Richtung. Etwa fünf Kilometer von der Baracke entfernt begann der große Wald. Hier angekommen, fühlte sich Pascha etwas beruhigter. Jetzt lief er nicht mehr, sondern ging, stets bemüht, den Waldesrand nicht aus den Augen zu verlieren, um sich nicht zu verirren und sich doch möglichst schnell von der Baracke zu entfernen. Lange wanderte er so dahin. Endlich übermannte ihn die Müdigkeit, er legte sich unter einen Baum und schlief bald ein. Nachts träumte er, dass man ihn eingeholt und in die Baracke zurückgebracht hatte. Dort schlug man ihn und goss ihm unaufhörlich die widerliche Fastensuppe in den offenen Mund . ..


Die warme Frühlingssonne stand bereits hoch am Himmel, als der kleine Flüchtling erwachte. Der vielstimmige Gesang der Vögel betäubte ihn förmlich, und es hatte den Anschein, als wollten die gefiederten Sänger sich mit ihrer Kunst vor dem Eindringling in ihr grünes Reich brüsten. Pascha richtete sich auf und überlegte, was nun wieder zu tun sei. Er beschloss, in sein Heimatdorf Sosnowka zu gehen; den Namen seines Gouvernements hatte er noch nicht vergessen. Wie gut hatte er es einst in Sosnowka gehabt! Er erinnerte sich noch des herrlichen Flüsschens, in dem er mit den ändern Kindern zusammen gebadet und Fische geangelt hatte . . . Sehr gerne hätte er noch vorher seine liebe Schwester gesehen; aber wo und wie sollte er sie finden? Zudem war ihm der Gedanke schrecklich, dass man ihn finden und wieder in die Baracke zurückbringen konnte. So beschloss er denn, tapfer weiterzugehen, um möglichst weit von der widerlichen Baracke fortzukommen; dann wollte er sich genau nach dem Weg in die Heimat erkundigen.


Er ging den ganzen Tag, stets die Ansiedlungen meidend. Nur in einem Dorf bat er um ein Stückchen Brot. Als die zweite Nacht hereinbrach, ging er tiefer in den Wald hinein, um dort zu übernachten. Er legte sich unter einen großen Baum und schlief fest ein. Vor Tagesanbruch wurde er durch einen Puff geweckt, und jemand rief ihm mit lauter Stimme zu: "Heda, steh auf, Kleiner! Was liegst du hier? Mit wem bist du hier?" Als Pascha sich erhob, sah er vor sich drei kräftige, vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnete Kerle und erschrak ordentlich. "Fürchte dich nicht, wir tun dir nichts. Erzähle, wie du hierher gekommen bist." Als Pascha merkte, dass diese Leute nicht aus der Baracke gekommen waren, erzählte er ihnen freimütig alles, was er erlebt hatte und wohin er gehen wollte. Sie hörten ihm aufmerksam zu: der kühne und verständige Knabe schien ihnen zu gefallen. Nach kurzer Beratung beschlossen sie, ihn mitzunehmen. "Damit er nicht umkommt", sagten sie. "Aus dem Jungen kann noch etwas Tüchtiges werden. Er hat sich nicht gefürchtet, aus dem Waisenhaus zu entfliehen, und jetzt wollte er sogar den weiten Weg in seine Heimat allein antreten! Wir müssen ihn jetzt nur noch nach unserer Art erziehen." - Sie teilten ihren Beschluss dem Jungen mit, wobei sie ihre Lebensweise lobten und ihm versprachen, dass er es bei ihnen sehr gut haben sollte. Pascha wagte nicht zu widersprechen; denn er fürchtete sich vor diesen bewaffneten Männern. Er ging mit ihnen in das Innere des Waldes. Auf einer Lichtung wartete ein kräftiger Bursche mit gesattelten Pferden auf sie. Er griff Pascha unter die Arme, setzte ihn vor sich auf sein Pferd, und sie trabten davon.
Nach langem Ritt auf gewundenen Waldwegen hielten sie endlich an. Die Pferde wurden abgeführt, während sie selbst, Pascha hinter sich herziehend, in gebückter Haltung durch eine Öffnung schlüpften, die sich aus vom Sturm geknickten Bäumen gebildet hatte. Nachdem sie einige Minuten durch dichten Walt gegangen waren tat sich vor ihnen eine Lichtung auf. Hier befanden sich etwa zwanzig Personen, größtenteils bewaffnete Männer und einige Frauen. Aller Augen richteten sich auf den mitgeführten Jungen, der so schmutzig und zerrissen aussah. Er wurde sofort mit Fragen überschüttet: wer er sei, woher er komme usw. Einer der Männer, anscheinend der Anführer der Bande, fragte ihn: "Wie heißt du?" - "Pascha Pawel", antwortete der Knabe mit fester Stimme. "Und wie lautet dein Familienname? - "Tichomirow" - Der Name passt nicht zu uns; du wirst von nun an "Smoljonyj" (Schmierfink) heißen, da du so dreckig und schmierig aussiehst", sagte scherzend der Anführer. Seit der Zeit nannte man ihn nicht anders als "Smoljonyj"; der neue Familienname gefiel allen sehr.


Pascha wurde es nun klar, dass er in eine Räuberbande geraten sei. Allmählich wurde er mit dem neuen Leben vertraut und fand schließlich sogar Gefallen daran. Die sorglose Freiheit, das gute Essen und die fröhliche, angeheiterte Stimmung - das alles stimmte ihn günstig für diese Leute, und er hörte auf, an Sosnowka zu denken. Nur seine Schwester Schura konnte er nicht vergessen und oft trauerte er um sie, da er annahm, dass sie nicht mehr am Leben sei.


Der kleine "Smoljonyj" wurde bald der Liebling aller Räuber und diente ihnen zum Zeitvertreib. Er wiederum interessierte sich lebhaft für ihre Abenteuer und wartete ungeduldig auf jede neue Beute. Von Tag zu Tag wurde er vertrauter mit dem neuen Leben und vergaß bald, was ihm seine Eltern einst über die Sünde des Stehlens gesagt hatten. Es war ihm sogar angenehm, die geraubten Sachen zu betrachten und den Erzählungen der Räuber zu lauschen, wenn sie von ihrer "Arbeit", wie sie ihr böses Handwerk nannten, zurückkehrten.
Es vergingen acht Jahre, und der sechzehnjährige "Smoljonyj" nahm bereits tätigen Anteil an den Raubzügen und Plünderungen der Bande. Wegen seiner Tapferkeit, Gewandtheit und Auffassungsgabe wurde er bald der Gehilfe des Anführers. Ihre "Arbeit" jagte der Bevölkerung in einem Umkreis von etwa hundert Kilometern Schrecken ein. Die dichten Wälder ermöglichten es ihnen, ihr Werk ruhig weiterzutreiben. Es schien, als könne sie niemand finden und ihre Tätigkeit stören. Sie beraubten jeden, der ihnen in die Hände fiel, und nicht selten verübten sie sogar Morde.


Doch jedes Ding währt seine Zeit. Ein für die Räuber ganz einfacher Fall brachte unerwartet einen völligen Umschwung in ihr Leben. Es war Spätherbst. Ein Teil der Bande, mit "Smoljonyj" an der Spitze, überfiel zwei Männer, die durch den Wald gefahren kamen, töteten und beraubten sie. Die Räuber entführten die Pferde und nahmen auch die Kleider und Stiefel der Ermordeten an sich. An Geld fanden sie nur 3 Rubel und 50 Kopeken. In einem Sack entdeckten sie außer allerlei Hausgerät zwei Bücher. Anfänglich wollten die Männer die Bücher wegwerfen, doch besannen sie sich eines besseren und nahmen sie als Zigarettenpapier mit. "Smoljonyj" steckte die Bücher zu sich. Nachdem er abends die im Laufe des Tages geraubten Sachen noch einmal besichtigt hatte, zog er die Bücher hervor und fing an, sie durchzulesen. Eines der Bücher trug die ihm unbekannte Aufschrift "Glaubensstimme". Das andere war ein Neues Testament. An dieses Buch hatten sich ihm noch schwache Erinnerungen aus der Kindheit bewahrt: ein Neues Testament hatten auch seine Eltern in Sosnowka gehabt. Auf seiner Pritsche liegend fing ,Smoljonyj" vor Langeweile an, die Stellen zu lesen, die sich ihm beim Öffnen "des Buches gerade boten. So las er: " - Da ist nicht, der nach Gott frage . . . Ihr Schlund ist ein offen Grab; mit ihren Zungen handeln sie trüglich; Otterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. Ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; in ihren Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid, und den Weg des Friedens wissen sie nicht. Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen" (Rom. 3, 11 - 18). Er überlegte: Früher hat es auch schon solche Leute gegeben, wie wir es sind. "Ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen . . ." Da tauchte in seiner Erinnerung das Bild auf, wie sie auf ihren schnellen Pferden den beiden Reisenden nachgejagt waren, wie dieselben sie um Schonung ihres Lebens gebeten hatten: aber ohne das geringste Erbarmen hatten er und seine Genossen sie getötet. Bei dieser Erinnerung wurde ihm eigentümlich zumute, und er sann weiter nach: "Wer mögen wohl diese Leute gewesen sein? Weshalb führten sie dieses Buch mit sich?" Er fing an in dem Neuen Testament zu blättern in der Hoffnung, irgendwelche Mitteilungen über die Ermordeten zu finden. Aber er fand kein Dokument, aus dem man hatte erfahren können, wer die beiden gewesen und woher sie gekommen waren. Nur auf dem Titelblatt befand sich folgende Aufschrift: "15. Mai 1898 - der Tag meiner Bekehrung zum Herrn, meiner Buße und Wiedergeburt. An diesem Tag hat Er mir meine Sünden vergeben und mich gewaschen mit Seinem heiligen Blute."


Smoljonyj verstand den Sinn dieser Worte nicht, und er blätterte weiter, einzelne Stellen des Buches lesend. "Wisset ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? . . ." Hierauf folgt die Aufzählung verschiedener Laster, und dann kamen die Worte: "Und solche sind euer etliche gewesen; aber ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesu und durch den Geist unseres Gottes" (1. Kor. 6, 9 - 11). Darauf las er das Gebet eines Menschen, der da sprach: "Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wieder." (Lukas. 19, 8). Er schlug einige Seiten um und wurde von dem 23. Kapitel des Lukas Evangelium hingerissen, in welchem die Kreuzigung Jesu geschildert wird. Von besonderem Interesse für ihn war, dass mit Christus auch zwei Mörder gekreuzigt wurden, von denen der eine Buße tat und seine Sünden bekannte, wofür ihm Jesus das Paradies verhieß.


Smoljonyj klappte das Buch zu und legte es unter das Kissen. Dann hüllte er sich in seine Decke und versuchte einzuschlafen. Aber der Schlaf floh ihm. Sein Herz war voller Unruhe. Alle seine Bemühungen, die aufdringlichen Gedanken von sich zu weisen und einzuschlummern, waren vergeblich. Immer wieder stieg in seiner Erinnerung das Bild auf, wie jene beiden Reisenden auf ihren Knien liegend um Schonung ihres Lebens flehten ...


Erst gegen Morgen fiel Smoljonyj in einen schweren Schlaf und erwachte dann mit neuer Unruhe im Herzen. Alle Kameraden bemerkten den besonderen Ausdruck auf seinem Gesicht und wussten nicht, welchem Umstände sie das zuschreiben sollten. Einige meinten, er sei erkrankt. Tagelang ging er verwirrt einher, und niemand vermochte aus ihm herauszukriegen, was eigentlich mit ihm geschehen sei. Seine Kameraden hörten nicht auf, nach der Ursache seines Trübsinns zu forschen, und endlich erklärte er einigen von ihnen, dass er nicht mehr ruhig werden könne, seitdem er etwas in dem Buche gelesen habe, das sie bei den Getöteten gefunden hatten. Bei dieser Erklärung bemächtigte sich aller ein eigentümliches Gefühl: was mochte das für ein Buch sein, durch welches der fröhliche Kamerad so traurig geworden war? Die einen verlangten die Herausgabe des Zauberbuches, um es zu verbrennen; andere baten interessiert, ihnen das Buch zu lesen zu geben. Endlich beschloss man, das Buch gemeinsam zu lesen. Als alle beisammen waren, las Smoljonyj ihnen die Stellen vor, die ihn so erschüttert hatten. Gespannt hörten sie zu. Gleich zu Anfang erklärte ein junger Räuber mit Bestimmtheit, dass dies Buch ein Testament sei und dass er es gut kenne. "Meine Mutter war eine Stundistin", sagte er, "und las stets in den Evangelien. Sie führte mich oft in die Kinder Versammlung, wo dieses Buch gelesen und wo gesungen und gebetet wurde."


Lange saßen die Männer beim Lesen des Buches zusammen und gingen dann schweigend auseinander. Die Mehrheit war in gedrückter Stimmung, niemand konnte begreifen, weshalb das Buch einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte. Seit jenem Tage versammelten sich die Räuber von Zeit zu Zeit, um das Neue Testament zu lesen. Dessen Wirkung war so mächtig, dass sie sich seinem Einfluss nicht entziehen konnten.
Es verging ein ganzer Monat, da erklärte der junge Räuber, dessen Mutter eine Stundistin gewesen war, seinen Kameraden offen, er könne sein verbrecherisches Handwerk nicht mehr fortführen. Nach ihm erklärte dasgleiche auch Smoljonyj. Sämtliche Räuber hatten die beiden bereits beobachtet, wie sie mit Tränen in den Augen gebetet hatten. Endlich folgte auch der Anführer der Bande ihrem Beispiel. Alle waren mit ihm einverstanden. Aber da tauchte vor ihnen die Frage auf, was sie nun tun und wie sie den neuen Lebensweg betreten sollten. Denn dazu müssten sie sich vor allen Dingen dem Gericht ausliefern. Und dann - würde es ihnen möglich sein, wenn auch nicht zehnfältig, so doch wenigstens teilweise den Schaden gutzumachen. Alle durch sie Geschädigten zufriedenzustellen? Das war natürlich unmöglich. Es blieb also nur die Auslieferung an die Obrigkeit übrig. Doch damit war die Mehrheit nicht einverstanden; nur jener junge Räuber, der sich als erster entschieden hatte, ein neues Leben anzufangen, und mit ihm Smoljonyj und noch fünf Männer beschlossen, vor den Vertretern des Gesetzes ihre ganze Schuld zu bekennen.


So kam der Tag der Trennung herbei. Der Abschied war rührend. Die Kameraden baten Smoljonyj, ihnen zum Schluss noch etwas aus dem Neuen Testament vorzulesen. Er schlug die Stelle auf, wo die Begegnung Jesu mit den beiden Besessenen geschildert wird; wie sie aus den Höhlengräbern herauskamen, wie Jesus die bösen Geister von ihnen austrieb und wie sie dann als Geheilte Ihm nachfolgten. "So ist es auch uns ergangen", fügte Smoljonyj hinzu. "Wir sind im Begriff, unser sündiges Leben aufzugeben. Lasst uns aufhören, den Menschen Böses zu tun und Christus nachfolgen!" Nach diesen Worten fiel Smoljonyj auf die Knie und bekannte mit lauter Stimme seine Übertretungen. Seinem Beispiel folgten auch die ändern. Bei dem allgemeinen Weinen und Stöhnen hörte man nur einzelne Worte und unzusammenhängende Ausrufe: "Vergib! . . . uns . . . mir . . . gedenke ... ich werde nicht mehr . . .ich will nicht . . . ich verspreche! . . ." usw. Nachdem die sieben Räuber sich von ihren Kameraden mit einem Kuss verabschiedet hatten, gingen sie, die Waffen in der Hand, in die nächste Stadt, während die ändern verschiedene Wege einschlugen.


Festen Schrittes und entschlossen näherten sich Smoljonyj und seine Kameraden der Stadt. Gleich auf der ersten Straße lenkten sie die Aufmerksamkeit der Bewohner auf sich, die sich nicht erklären konnten, woher diese Gruppe buntgekleideter und bewaffneter Menschen kommen mochte. An der Ecke einer der Hauptstraßen fragten sie den Schutzmann, wo der Staatsanwalt des Kreisgerichts wohne. Der Schutzmann wies auf ein großes, zweistöckiges Haus in derselben Straße, und die Räuber gingen hinein. Die hatten schon vorher verabredet, dass Smoljonyj, der gewandteste von allen, dem Staatsanwalt ihre Sache vortragen sollte.


Die Räuber traten in ein großes, helles Zimmer mit Parkettfußboden, in welchem bereits etwa zwanzig Menschen auf das Erscheinen des Staatsanwaltes warteten. Vor dem Eingang zum Dienstraum stand ein Gerichtsdiener. An diesen wandte sich Smoljonyj mit folgenden Worten: "Wir bitten Sie, dem Herrn Staatsanwalt zu melden, dass wir ihn unbedingt sprechen müssen!" "In welcher Angelegenheit kommen Sie?" - "In einer sehr wichtigen", antwortete Smoljonyj. Der Diener verschwand hinter der Tür. Und schon nach wenigen Minuten standen die Räuber vor einem älteren, achtunggebietenden Herrn, der durch das unerwartete Erscheinen der sieben bewaffneten Kerle etwas erregt war. Auch die Räuber, die sich in der Taiga (Waldgebiet in Sibirien) zu diesem ungewöhnlichen Schritt des freiwilligen Bekenntnisses entschlossen hatten, waren, als sie dem Vertreter des Gesetzes Auge in Auge gegenüberstanden, aufgeregt. "Gestatten Sie uns, Ihnen zu erklären, wer wir sind und wozu wir uns hier eingefunden haben", begann Smoljonyj mit zitternder Stimme. "Wir sind Räuber, doch brauchen Sie sich nicht vor uns zu fürchten: wir sind gekommen, um Ihnen unsere Schuld zu bekennen und Buße zu tun. Wir haben erkannt, was für ein großes Unrecht wir getan haben und kommen nun, um die durch Gesetz für Räuberei festgesetzte Strafe abzubüßen. Verfahren Sie mit uns, wie es die Gerechtigkeit verlangt. Hier sind unsere Waffen, nehmen Sie sie hin." Bei diesen Worten legten Smoljonyj und seine Gefährten rasch ihre Waffen auf einen Haufen nieder.


Der Staatsanwalt wurde ganz verwirrt und konnte sich nicht sofort wieder beherrschen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er dem Schuldbekenntnis einer ganzen Gruppe von Menschen beiwohnte, die sich freiwillig den Händen eines Vertreters des Gesetzes auslieferten. Endlich rief er die Polizei. Nach wenigen Minuten erschien eine Abteilung bewaffneter Soldaten mit dem Polizeihauptmann an der Spitze. Nach Abnahme des vorläufigen Verhörs wurde ein Protokoll aufgestellt und dann die Sache dem Untersuchungsrichter überwiesen. Als Smoljonyj während des Verhörs in allgemeinen Zügen seine Leidensgeschichte schilderte und über die Ursache sprach, die ihn und seine Genossen bewogen hatte, die verbrecherische Lebensweise in den Wäldern aufzugeben, wurde der Staatsanwalt und mit ihm alle Anwesenden sichtlich ergriffen, und nur mit Mühe konnten einige ihre Tränen verbergen. Es wurde ihnen schwer, zu begreifen, dass die mit den Verbrechern plötzlich vorgegangene grundlegende Veränderung nur die Folge ihrer Bekanntschaft mit dem Evangelium sein sollte.


"Ich will nicht mehr Smoljonyj heißen, sondern Pawel Tichomirow", sagte der Jüngling, "ich will fortan Gott und den Menschen dienen und ohne Murren die vom Gesetz vorgeschriebene Strafe auf mich nehmen. Wir sind jetzt in ihren Händen." Diesen Worten pflichteten sämtliche Kameraden bei.


Aufgeregt gab der Staatsanwalt den Befehl, die sieben Verbrecher unverzüglich ins Gefängnis abzuführen und sie dort unterzubringen, bis zur Beendigung der Untersuchung in Einzelheiten. Die ehemaligen Räuber wurden darauf abgeführt. Der Staatsanwalt blieb mit dem Polizeihauptmann allein im Dienstraum zurück. Lange besprachen sie miteinander dies ungewöhnliche Ereignis. Denn gewöhnlich leugnen die Verbrecher ihre Schuld oder sie gestehen sie nur unter dem Druck unanfechtbarer Beweise und wenn sie auf frischer Tat gefasst werden; die Männer dagegen waren freiwillig gekommen und hatten ein Bekenntnis abgelegt. Wie groß muss die Kraft des Evangeliums sein, wenn es die Menschen so völlig umgestaltet!


Der Polizeihauptmann entfernte sich, während der Staatsanwalt nach Beendigung der Sprechstunde sofort seiner Frau das Erlebnis mit den Räubern erzählte. Auch ihr Erstaunen war groß. Nach einigem Nachdenken sagte sie: "Einer von den mit Christus gekreuzigten Mördern tat auch Buße, aber er hing am Kreuz und konnte nicht entfliehen; diese Menschen dagegen brauchten nicht zu kommen, sie konnten weiter ihr Handwerk treiben und sich in der Taiga verstecken. Das ist einfach ein erstaunlicher und in der Geschichte des Gerichtswesens nie dagewesener Fall!"


Der Abend brach herein, aber der Staatsanwalt und seine Frau konnten sich nicht beruhigen. "Was denkst du, Tanja", sagte der Staatsanwalt, "sollten nicht auch wir das Neue Testament lesen? Vielleicht erfahren wir, wodurch es so auf die Menschen wirkt, denn wir kennen es ja gar nicht." - "Ich habe es schon gelesen", sagte Tatjana Alexandrow-na würdevoll, "allein, ich verstehe nicht, was darin so auf die Räuber gewirkt haben soll." Der Staatsanwalt, Jurij Nikolajewitsch, erhob sich und ging in sein Bibliothekszimmer, ein Neues Testament zu suchen, während seine Frau in die Küche eilte, um dort ihre Anordnungen für das Abendessen zu treffen. Jurij Nikolajewitsch setzte seine Brille auf, schlug das Neue Testament auf und begann darin zu blättern. Seine Aufmerksamkeit wurde auf das 12. Kapitel des Johannes-Evangeliums gelenkt, und er fing an zu lesen. Beim Lesen billigte er in Gedanken Marias Handlungsweise, die für Christus wertvolle Salbe opferte, während er vom Standpunkt des Kriminalisten aus den Verräter Judas, diesen heimlichen Dieb, verurteilte und seine Taten unter die entsprechende

Gesetzesparagraphen stellte. Er erstaunte ob der Allmacht Christi, der den Lazarus auferweckte, als dessen Leib schon in Verwesung übergegangen war und wunderte sich über den Unglauben der Schriftgelehrten, die sich doch sicherlich unter den Augenzeugen des unerhörten Wunders befunden hatten. Er sann tief nach über das Gleichnis vom Weizenkorn, welches zuvor ersterben muss, ehe es Frucht bringen kann, doch vermochte er den wahren Sinn dieser Allegorie nicht zu begreifen. Als er aber zu den Worten kam: "Wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen", fühlte er, wie der Gekreuzigte ihm plötzlich so nahe trat, wie seine Seele warm wurde und sich ausstreckte nach dem Kreuz, von welchem einst das große Wort erklungen war: "Es ist vollbracht!" Und er überlegte, ob das wohl die Kraft gewesen sei, die den Tichomirow angezogen habe? Als er am Schluss des 12. Kapitels die Worte las: "Wer mich verachtet und nimmt meine Worte nicht an, der hat schon, der ihn richtet; das Wart, welches ich geredet habe, das wird ihn am Jüngsten Tage richten", überfiel ihn ein gewisser Schrecken. Nun wurde ihm klar, weshalb die Räuber ihr lasterhaftes Treiben aufgegeben hatten . . .


Bald darauf kam Tatjana Alexandrowna aus der Küche zurück. "Worüber denkst du nach, und was hat dich so erschüttert?" fragte sie ihren Mann. Jurij Nikolajewitsch fing an zu erklären, doch vermochte er das ungewohnte Thema und die ungewohnten Gedanken nicht in die rechten Worte zu kleiden, und so verstand Tatjana Alexandrowna ihn nicht. Das Abendessen war beendet. In der Nacht konnte Jurij Nikolajewitsch keinen Schlaf finden. Sobald er die Augen schloss, hörte er die Worte: "Mein Wort wird richten . . ." Uns es schien ihm, als sei er der Angeklagte und als höre er die Paragraphen des göttlichen Gesetzes, die ihn, den Staatsanwalt, für alle im Leben vollbrachten Vergehen richteten und ihn zur ewigen Verdammnis in der


höllischen Finsternis verurteilten, und als suche und rufe er einen Verteidiger und könne doch keinen finden. Dann fiel Jurij Nikolajewitsch in einen kurzen Schlaf; aber auch im Schlaf fand er keine Ruhe. Am Morgen erzählte er seiner Frau, was er am Abend und in der Nacht durchlebt hatte. Sie schrieb aber seinen Zustand dem überanstrengenden Dienst und seiner Nervosität zu. Und als er ihr sogar erklärte, daß er beschlossen habe, sein Amt niederzulegen, erschrack sie und meinte, er habe den Verstand verloren. Jurij Nikolajewitsch blieb jedoch fest in seinem Entschluss. Es war ihm klar geworden, dass der am Kreuz erhöhte Gottessohn auch ihn, den Staatsanwalt, zu sich gezogen habe und von nun an sein persönlicher Heiland sein werde.


Pawel Tichomirow und seine Kameraden wurden in Einzelzellen untergebracht. Sämtliche Untersuchungsrichter, die die ehemaligen Räuber verhörten, wunderten sich über den von ihnen unternommenen Schritt und staunten besonders über die Tatsache, dass diese Menschen unter dem Einfluss des Evangeliums völlig umgestaltet worden waren. So groß ist also die Kraft dieses göttlichen Buches, wenn man mit verlangendem Herzen und mit dem Wunsch, die Wahrheit zu erkennen, an es herantritt! Bald sprach man in der Stadt nicht nur von der Umkehr der ehemaligen Räuber und der plötzlichen, unerklärlichen Abdankung des Staats-anwaites, sondern auch davon, dass der Gefängnispriester die Isolierung der früheren Verbrecher gefordert habe unter der Behauptung, Tichomirow und seine Genossen verführten die ändern Sträflinge zur Annahme ihres Glaubens. Aber es war schwer, das Feuer des Evangeliums zu dämpfen, und es loderte in allen Zellen auf. Viele Gefangene und auch einige Gefängniswärter hatten das 12. Kapitel aus der Apostelgeschichte fast auswendig gelernt, so gefiel es ihnen.


Nach einem Jahr standen die sieben Räuber vor dem Gericht. Der neue Staatsanwalt brauchte angesichts ihres freiwilligen Bekenntnisses sich in seiner Anklagerede nicht so stark um die Beweisführung zu bemühen. Der frühere Staatsanwalt war jetzt Verteidiger für diese Menschen, die alles bekannt hatten und nun ein arbeitsames und ehrliches Leben anfangen wollten. Nichtsdestoweniger wurden sie zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Sie nahmen das Urteil in aller Demut entgegen in der Erkenntnis, dass sie es verdient hatten und verzichteten auf ihr Recht, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Die Gerichtsverhandlung war öffentlich. Als den Angeklagten das letzte Wort erteilt wurde, bereute ein jeder von ihnen in schlichten Worten, dass er so viele Jahre den Menschen Unrecht zugefügt habe und sprach dann von der Wirkung des Evangeliums auf sein Innenleben. Viele von den Zuhörern wurden gerührt, und es war zu merken, dass der Same des Wortes Gottes in viele Herzen zu keimen begann.


Nach Beendigung der Gerichtsverhandlung wurden die Sträflinge je nach ihrer Bestimmung einzeln in verschiedene Gegenden verschickt, außer Tichomirow und Solowjew, die ein und denselben Bestimmungsort hatten. Beim Abschied versprachen sie einander, unter allen Umständen ehrlich und dem Herrn treu zu bleiben und ändern von seiner Liebe zu erzählen. Tichomirow und Solowjew wurden in die Gegend hinter dem Baikalsee gebracht. In allen Etappengefängnissen, die sie auf ihrem Weg in die Verbannung passieren mussten, erzählten sie von ihrer Errettung durch das Evangelium und von der Liebe Gottes zu jedem bußfertigen Sünder. Überall fanden sich Menschen, die mit besonderer Aufmerksamkeit ihrem schlichten Zeugnis lauschten und es zu Herzen nahmen. Die Zwangsarbeiter, deren Los Tichomirow und Sodowjew von nun an teilen mussten, waren besonders aufmerksame Hörer des lebendigen Wortes, und nach einiger Zeit ergaben sich einige von ihnen ganz dem Herrn. Nach zwei Jahren bemerkte auch die Gefängnisbehörde, dass die sonst stets unruhigen Sträflinge stiller geworden waren und dass einige sich tadellos aufführten.


Tichomirow hatte auf dem Wege in die Verbannung überall nach den Ansiedlern aus dem Gouvernement Mogi-lew geforscht in der Hoffnung, irgend etwas über den Aufenthaltsort seiner Landsleute und in erster Linie auch seiner Schwester zu erfahren, und ob sie noch am Leben sei. Alle Briefe, die er in seine Heimat schickte, blieben unbeantwortet. O, wie oft musste er an sein liebes Schwesterchen denken! Wie gern hätte er ihr von allen seinen Erlebnissen erzählt und über seine Bekehrung von den toten Werken zur lebendigen Hoffnung in Christo berichtet!
Da geschah es, dass nach einigen Jahren aus Anlass irgendeines wichtigen freudigen Staatsereignisses eine Amnestie erlassen wurde, durch welche Pawel Tichomirow und Grigorij Solowjew vor ihrem Termin frei kamen. Als sie sich von den durch sie in der Verbannung gläubig gewordenen Sträflingen verabschiedeten, befahlen sie Gott ihre geistlichen Kinder; diese aber weinten bei der Trennung. Tichomirow und Solowjew traten nun zu Fuß den Weg in Richtung Irtusk - Tomsk an. Ihr innigster Wunsch war, sich bis in ihre Heimat im europäischen Russland durchzuschlagen, deren sie sich noch dunkel erinnerten. Jedermann, mit dem sie während ihrer Wanderung oder in den Herbergen zusammentrafen, interessierte sich für sie und fragte, wer sie seien, woher sie kämen und wohin sie gingen. Die Lebensgeschichte der ehemaligen Räuber bewegte sie aufs tiefste, und in vielen Herzen entbrannte der Wunsch, auch dem Herrn dienen zu dürfen. In manchen Ansiedlungen fanden sie gläubige Geschwister, mit denen sie die Abende in brüderlicher Aussprache und dem Lesen des Wortes Gottes verbrachten. Die Gläubigen freuten sich über den Triumpf des Evangeliums bei der Bekehrung der verlorenen Sünder und priesen den Namen des Herrn. In einer Ansiedlung, wo sie den Sonntag zubrachten und in einer großen Versammlung von ihrem früheren Leben und ihrer Rettung Zeugnis ablegten, entstand eine Erweckung; eine Anzahl Seelen bekehrten sich zum Herrn. Groß war die allgemeine Freude ob dieses Ereignisses.


Es war in den ersten Frühlingstagen. Die Flüsse traten aus ihren Betten, die ganze Natur lebte nach langem Winterschlaf auf; in großen Scharen strebten die Zugvögel den heimatlichen Gestaden zu, wo sie ihre Nester zurückgelassen, hatten -, auch Tichomirow'und Solowjew eilten ihrer Heimat zu, wo man ihre Wohnungen längst zerstört hatte . . . Sie hielten sich auf ihrer Wanderung in der Nähe der Eisenbahnstrecke. Tichomirow bemühte sich vergeblich, auf den Namen jener Eisenbahnstation zu kommen, wo er die Eltern und seine Schwester verloren hatte. Er wollte so gerne jene Schneeschutzwände noch einmal sehen, hinter denen er einst in seiner Kindheit so viel Schweres durchgemacht hatte. Bei der Erinnerung an das Durchlebte rannen ihm die Tränen über die Wangen, und er rief aus: "Ach, ihr meine Lieben ... ihr habt mich allein gelassen, und nun muss ich einsam in der weiten Welt umherirren!" Aber dann dachte er daran, wie auch der Sohn Gottes auf Erden keinen Zufluchtsort hatte und selbst unter seinen Verwandten einsam war.


Der Tag ging zu Ende, als sich die Wanderer einem kleinen Städchen näherten, das am Ufer eines Flusses, unweit der Eisenbahn, lag. In eine ihrer Straßen einbiegend, fragten sie die Leute: "Gibt es hier Gläubige?" Man zeigte auf ein hübsches kleines Haus inmitten hoher Tannen. Als sie sich dem Haus näherten, bemerkten sie vor der Haustür zwei spielende Kinder und etwas weiter hinten eine gut gekleidete Frau, die dort beschäftigt war und ihnen freundlich zunickte. Die Männer traten an sie heran und knüpften ein Gespräch mit ihr an; sie sagten ihr, dass sie gläubig seien und baten sie um ein Nachtquartier. Die junge Frau führte sie freundlich ins Haus und sagte dabei: "Für Brüder im Herrn findet sich immer noch ein Plätzchen." Darauf rief sie ihren Mann, der im Garten beschäftigt war; er kam sofort herein, begrüßte die Gäste freudig und unterhielt sich mit ihnen. Seine Frau eilte hinaus, um den Abendtee zu bereiten. Bis das Wasser in der Teemaschine zum Kochen kam, hatte sie zwei Kühe gemolken und den Tisch gedeckt. Was gab es da nicht alles: große Stücke frische Butter, einen großen Milchtopf voll Rahm, zwei bis drei Sorten Gebäck, gekochte Eier und herrliches Weißbrot -, all das lockte die Blicke der ausgehungerten Wanderer an. Die große Lampe warf ihr helles Licht auf die schneeweiße Tischdecke, und die blanke Teemaschine surrte fröhlich. Die freundliche Hausfrau kam in ihrer weißen, mit Stickerei besetzten Schürze herein und sagte zu ihrem Manne: "Bitte die Brüder zu Tisch." Alle traten an die gedeckte Tafel, und der Hausherr bat um den Segen Gottes. Er dankte dem Herrn für seine Liebe und Fürsorge, dankte für die lieben Gäste und bat ihn, er möge sie im Glauben erhalten und die Speise segnen. Tichomirow befand sich zum erstenmal in seinem Leben an einem so reichlich gedeckten Tisch und in einer so gastfreundlichen Familie. Sein Herz strömte über von Freude und Wonne. Die Kinder des Hauses, ein Junge und ein Mädchen, nahmen ebenfalls ihre Plätze an dem Tisch ein, schauten auf die Gäste und hörten aufmerksam dem Gespräch zu. Tichomirow hatte die vor dem Abendessen angefangene Erzählung an der Stelle unterbrechen müssen, wo die Räuber im Walddickicht zum erstenmal das den ermordeten Reisenden geraubte Neue Testament lasen. Auf die Bitte des Hausherrn setzte Tichomirow seine Erzählung fort. In lebendigen Worten schilderte er, wie das Evangelium allmählich in sein und seiner Kameraden Herzen eingedrungen sei, wie sie ihre Übeltaten bereut und dann beschlossen hätten, ihre Lebensweise zu ändern und sich der Justiz auszuliefern; wie der Staatsanwalt gläubig geworden sei und wie man sie verurteilt hatte; er erzählte weiter von seinem Aufenthalt in den Transportgefängnissen und von den Jahren, die er in der Zwangsarbeit bis zur Amnestie zugebracht hatte. Die Gastgeber konnten ihre Blicke von dem Erzählenden nicht losreißen, und die Hausfrau wischte des öftern die Tränen ab, als wollte sie sie vor den Augen der ändern verbergen.


Bei der Erzählung verging die Zeit unbemerkt; die große Uhr kündete laut die Mitternachtsstunde an. Alle knieten nieder und dankten Gott für seine herrliche Tat zur Errettung der verlorenen Sünder. "Wohin wollen Sie aber jetzt gehen", fragte bewegt die Hausfrau, als sich alle erhoben hatten. - "Wir haben beschlossen, in unsere Heimat zu gehen", antwortete Tichomirow. - "Haben Sie denn dort Verwandte?" fragte die weiter. - "Ja, Solowjew hat noch eine Mutter, die gläubig ist und im Gouvernement Kiew lebt. Ich aber habe niemand, weder Vater noch Mutter; ich gehe einfach mein heimatliches Nest aufsuchen, das heißt mein Heimatdort im Gouvernement Mogilew. Vor allen Dingen aber habe ich ein großes Verlangen, meinen Landsleuten von Christus und Seiner Liebe zu ihnen zu erzählen."
- "Sind sie schon lange verwaist?" fuhr die Hausfrau fort. - "Ich verlor meine Eltern, als ich acht Jahre alt war -, ich habe sie hier in Sibirien, während unserer Übersiedlungsfahrt verloren. Mein Vater starb zwei Tage vor dem Tode meiner Mutter."


Die Hausfrau griff mit beiden Händen nach dem Tisch und stand, vorn übergebeugt, Tichomirow tief in die Augen blickend. Ihr Mann staunte sie verwundert an und konnte nicht begreifen, weshalb sie den Gast so gründlich ausforschte, anstatt die Betten für die Nacht herzurichten. Tichomirow fuhr fort: "Wir, meine Schwester und ich, blieben als Vollwaisen zurück; sie war etwas älter als ich. Am Tage nach dem Tode meiner Mutter verlor ich sie aus den Augen, und bis heute weiß ich nicht von ihr; sie ist sicher umgekommen, wie so viele verwaiste Kinder bei den unmöglichen Lebensverhältnissen der Übersiedler umkommen mussten. Sie war ein gutes Mädchen und sorgte für mich wie die eigene Mutter." Und Tichomirow fing an zu weinen. Weiß wie der Tod und von Tränen überströmt rief die Hausfrau aus: "Bist du es etwa, mein lieber Bruder Pascha? Sag es mir schnell; mein Herz sagt es mir, du seiest es." - "Schu-ra! Sehen dich meine Augen wirklich? Du - mein Engel, meine liebe Schwester!" rief er aus, wie ein Kind weinend.


- "Ja, ich bin es, ich bin deine Schwester, du, mein Lieber.
Wie hat meine Seele um dich gelitten!" Die Geschwister stürzten sich in die Arme, küssten sich und weinten. Dann lief Tichomirow auf die Kinder zu, die auf die Mutter blickend auch weinten; bald küsste er die Kinder bald den Mann seiner Schwester.


An der allgemeinen Freude nahm auch Solowjew teil, der von dem unverhofften Wiedersehen der beiden Geschwister gerührt war. O, was war das für eine Freude! Schura war so aufgeregt, dass sie nicht wusste, was sie zuerst angreifen sollte. Immer wieder trat sie an Pascha heran, umarmte ihn und sprach: "Bist du es wirklich, mein Bruder? Sehe ich dich wirklich? O, welch ein Glück! Als ihr euch unserem Hause nähertet, war es mir, als habe ich etwas Wertvolles gefunden; Freude -, ich wusste nicht, woher es kam. Ich war sofort bereit, euch zu bewirten und zu beherbergen. Nach soviel selbstdurchlebter Not nehme ich auch sonst mit Freuden Hilfsbedürftige auf, aber in diesem Fall schien mein Herz besonderes danach zu trachten. Jetzt weiß ich auch warum: mein lieber Bruder war es ja, der zu mir kam; zwanzig Jahre lang haben wir uns nicht gesehen. O, welch eine Freude! . . ." Und wieder fielen sie auf die Knie und priesen Gott mit solcher Inbrunst, wie nie zuvor. Alle lobten Gott, ja selbst das fünfjährige Töchterlein Schura betete: "Lieber Heiland, ich danke Dir, dass Du den Onkel Pascha zu uns geführt hast!" Alle weinten und Alexej Wassijewitsch dankte Gott für das wertvolle Geschenk, das er seiner Frau beschieden hatte.
Es war bereits drei Uhr nachts und noch schliefen sie nicht, selbst die Kinder hatten sich nicht hingelegt. Sie tranken noch einmal Tee, plauderten miteinander und gingen dann endlich vor Morgengrauen zu Bett, nachdem sie sich dem Schütze Gottes befohlen hatten. Nach dem bewegten Erlebnis war der Schlaf bei allen unruhig. Pascha träumte, dass er im Walde den Räubergenossen das Evangelium vorlese . . . Der Abschied von ihnen, der Staatsanwalt, das Gericht, die Transportgefängnisse, die Zwangsarbeit . . . Als er erwachte und sich überzeugte, dass alles nur ein Traum gewesen war, dankte er nochmals seinem Herrn. Beim Frühstücktee - wieder dieselbe Bewunderung und das gleiche Staunen über die Gnade Gottes und seine Sorge für die Waisen. Schura bat ihren Bruder, seine Erlebnisse seit der Trennung bei den Schneeschutzwänden an der Eisenbahnstation noch einmal zu schildern. Sie selbst hatte in der Baracke für Mädchen auch viel zu leiden gehabt und war dort bis in den Spätherbst geblieben. Als die Kälte sich einstellte und die Baracke nicht geheizt wurde, brachen Epidemien aus, die die Kinder dutzendweise hinrafften. Da kamen guten Menschen aus den benachbarten Dörfern und nahmen die Kinder zu sich, um sie vor dem Erfrieren zu bewahren. Schura wurde von einer armen gläubigen Witwe, die selbst vier Kinder hatte, aufgenommen. In einer kleinen Hütte mit flachem Rasendach brachte nun Schura den Winter bei Tante Dunja zu. Brot hatte sie genug. Tante Dunja pflegte stets das Neue Testament zu lesen und mit den Kindern zu beten. In dieser Ansiedlung befand sich auch eine Schule. Schura lernte fleißig, und das Lesen machte ihr viel Freude, besonders gern las sie im Neuen Testament. Als sie vierzehn Jahre alt war, bekehrte sie sich bewusst zum Herrn und bat um Taufe. Es vergingen noch vier Jahre. Schura war zur Jungfrau herangereift. Sie galt alt tüchtige Arbeiterin und war die beste Sängerin im Chor. Jedermann liebte sie. Niemand kam es in den Sinn, dass sie nicht die Tochter von Tante Dunja sei. Beide hatten einander sehr lieb. Der Gemeindechor des Dorfes besuchte nicht selten die Nachbardörfer und sogar die Städte, um für den Herrn zu wirken. Einst beschlossen die Sänger, in das Städchen zu fahren, in welchem Schura jetzt wohnte. Der Herr segnete ihren Dienst reichlich. Unter dem Einfluss der geistvollen Ansprachen des Predigers, der mit dem Chor gekommen war, und unter der Wirkung des wundervollen Gesanges bekehrte sich eine Anzahl Menschen zum Herrn, darunter auch ein junger Buchhalter, der in einem Handelshause angestellt war. Nach einem Jahr war er Schuras Mann, und jetzt lebten die beiden in Liebe und Eintracht miteinander und hatten zwei Kinder. Als Schura mit ihrem Bericht fertig war, erinnerte Pascha sie daran, wie er sich nach dem Tode der Eltern unter den Zug hatte werfen wollen, und wie sie ihn dann überredet hatte, diesen verzweifelten Schritt nicht zu tun, indem sie sagte: "Verzage nicht, mein Lieber, Gott wird uns nicht verlassen." Jetzt mussten Schura und Pascha an die Worte des Psalmisten denken: "Singet Gott, lobsinget Seinem Namen ... Er heißt Herr; und freuet euch vor Ihm, der ein Vater ist der Waisen und ein Richter der Witwen. Er ist Gott in seiner heiligen Wohnung; ein Gott, der den Einsamen das Haus voll Kinder gibt; der die Gefangenen ausführet zu rechter Zeit. . ." (Psalm 68, 5 - 7). Und sie priesen aufs neue den Herrn.


Mit der Absicht ihres Bruders, in die Heimat zurückzukehren und seine Verwandten und Bekannten zu Christus zu rufen, war Schura einverstanden, doch trieb sie ihr Herz ihn auf seiner Reise zu begleiten und ihm in der Arbeit an den unerlösten Seelen zu helfen. Alexej Wassiljewisch gab gerne seine Einwilligung hierzu und versprach, auf den Jungen gut aufzupassen; ihr Töchterlein beschloss Schura mitzunehmen. Das Reisegeld erhielten sie von Alexej Wassil-jewitsch.


Nach drei Tagen befanden sie sich bereits auf der Fahrt nach dem europäischen Russland. Endlich erreichten sie das Gouvernement Samara, dann folgten Saratow, Pensa, Woronesh, Kursk und Kiew. In Kiew verabschiedete sich Solowjew von Pascha und Schura und fuhr in sein Heimatdorf, in der Hoffnung, nach dem Wiedersehen mit seiner Mutter zu ihnen zurückzukommen. Die Geschwister fuhren weiter nach dem Gouvernement Mogilew. Da war auch schon ihr Heimatdorf Sosnowka! Dort angekommen, fragten sie nach der Familie Tichomirow, und es stellte sich heraus, dass in Sosnowka noch zwei Brüder ihres Vaters, zwei Tanten und einige entfernte Verwandte lebten. Alle verwunderten sich über das Auftauchen von Pascha und Schura, von denen sie gehört hatten, dass sie nach dem Tode der Eltern vor Erreichung des Reiseziels ebenfalls gestorben seien. Jedermann lud sie zu sich zu Gaste ein. Bald erfuhren es alle, dass die wiedergefundenen jungen Verwandten "Evangelisten" seien. Wenn sie aufgefordert wurden, die Freude des Wiedersehens durch Trinken zu feiern, lehnten sie ab mit der Begründung, dass sich so etwas für Christen nicht zieme. Aber weshalb denn nicht, verwunderten sich die Dorfbewohner; waren sie doch auch Christen und tranken trotzdem bei jeder Gelegenheit Branntwein. Hieran knüpfte sich dann meistens eine Aussprache, und später ging man über zum Lesen des Wortes Gottes. Großen Eindruck machte auf alle Paschas Schilderung, wie er zum neuen Leben gekommen war. Fast jeden Abend versammelten sich die Bewohner von Sosnowka bei Tichomirows, um das Wort Gottes zu hören, und ganz allmählich durchbrach die Wahrheit des Evangeliums die Rinde der veralteten Vorurteile eines rein äußerlichen Formenglaubens. Viele fanden in Christus ihren persönlichen Heiland und beschlossen, ihr Leben Ihm ganz zu weihen . . .


Da brach eine neue Prüfung herein . . . Der Priester wurde erregt und brachte die Polizei der ganzen Umgebung auf die Beine, indem er angab, es sei ein Sträfling hergekommen, der alle Grundfesten des prawoslawischen Glaubens im Volke erschüttere, und wenn die Behörden nicht eingreifen würden, dann liefen die Grundfesten des Staates Gefahr, durch diese neue Lehre erschüttert zu werden. Des Nachts erschien in der Wohnung Tichomirows ein Schutzmann und führte Pawel zum Vorsteher der Landespolizei. Am nächsten Morgen kamen der Untersuchungsrichter und der Priester in die Kanzlei des Vorstehers. Nach dem Verhör wurde ein Protokoll aufgestellt, das auf Verführung lautete. Bis zur Gerichtsverhandlung brachte man Tichomirow unter polizeilicher Aufsicht ins Kreisgefängnis.


Schura grämte sich sehr um ihren Bruder. Sie musste nach Sibirien zurückkehren, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben, da der Besuch der Verhafteten vor der Gerichtsverhandlung nicht gestattet war. Nach einigen Tagen schrieb Pascha an seine Schwester Schura! Ich bitte Dich, trauere nicht um mich . . .ich bin sehr froh, dass ich nicht mehr als Räuber und Dieb im Gefängnis sitze, sondern als Christ gewürdigt bin, an den Leiden meines Heilandes teilzuhaben. Ich freue mich hierüber unbeschreiblich, da im Gefängnis viele verlorene Seelen nach der Erlösung dürsten, die ich ihnen in Christus bringen darf. Verzage nicht, sondern bete für mich. Ich küsse Dich, Deinen Mann und Eure Kinderchen."


Bis zur Gerichtsverhandlung verstrich ein ganzes Jahr, und Pawel war schon in drei verschiedenen Gefängnissen gewesen. Überall predigte er von Christus und überall entschieden sich Sünder für den Weg des Heils. Die Gefängnispriester baten die Behörde, sie von diesem Ketzer zu befreien, mit dem ein Auskommen unmöglich sei. Das Gericht verurteilte Tichomirow zu zweijähriger Verbannung in das Gouvernement Jeninneisk wegen "Verführung der Rechtgläubigen zu Stundismus". Es hatte sich herausgestellt, dass allein in Sosnowska an hundert Seelen aufgehört hatten, zum Priester zur Beichte zu kommen und die Heiligenbilder anzubeten.
Bald nach der Verurteilung wurde Pawel über verschiedene Transportgefängnisse wieder in das ihm so bekannte Sibirien gebracht. Es gelang ihm, Schura und ihren Mann zu benachrichtigen, mit welchem Zuge er die ihnen am nächsten gelegene Eisenbahnstation passieren würde, und sie kamen dorthin, um ihn noch einmal zu sehen. Sie durften ihn nur durch das Gitterfenster des Arrestantenwagens begrüßen. Schura weinte, denn ihr Bruder tat ihr leid; er aber schaute sie freudig lächelnd an und gab dadurch zu verstehen, dass er froh war, für Christus leiden zu dürfen.


Auch diese beiden Jahre vergingen. Das Leben Tichomirows in der Verbannung spiegelte überall das reine und heilige Leben Christi wider, was auch die Ursache des Erfolges seines Zeugnisses war. Während dieser zwei Jahre stand er im Briefwechsel mit Schura und auch mit Solowjew. Der teilte ihm mit, dass er im Heimatdorf geblieben sei, wo die kleine Gemeinde der Evangeliums-Christen ihn brüderlich aufgenommen habe und dass er in ihr in großem Segen arbeiten dürfe. Seine Mutter war noch am Leben und sehr glücklich darüber, dass Gott ihre Gebete erhört und ihren Sohn gerettet hatte. Jetzt beschloss sie fröhlich und zufrieden ihren Lebensabend bei ihrem Sohn, einem ehrlichen und enthaltsamen Christen.


Nach Ablauf der Verbannungszeit fuhr Pascha zu seiner Schwester, fest entschlossen, sein ganzes Leben der Rettung verlorener Sünder zu widmen. Er wollte sich nicht durch die Ehe binden, damit ihn nichts an der Verkündigung der Heilsbotschaft Gottes an die Menschen hindere, jenes Evangelium, das ihn und viele Verlorene mit ihm völlig umgestaltet hatte., Er arbeitete in der Gemeinde jener Stadt, in der Schura lebte und auch an anderen Orten Sibiriens, seine ständige Wohnung aber hatte er bei seiner Schwester, worüber sich auch sein Schwager freute. Schura begleitete ihren Bruder oft auf seinen Wegen in die Dörfer als seine Mitarbeiterin des Herrn. Das geistliche Leben der Gemeinde in ihrer Stadt blühte.


Auf die erste Seite jenes Neuen Testamentes, das Pawel Tichomirow einst dem von ihm erschlagenen Bruder abgenommen hatte, schrieb er folgende Worte: "Vergib mir um Christi willen, teurer Bruder; ich tötete dich, da ich selbst tot war in meinen Sünden. Der Herr hat mir vergeben und mich zu neuem Leben erweckt. Dein unzeitiger leiblicher Tod hat nicht nur mich, sondern mit mir auch viele andere Sünder und Mörder zum ewigen Leben geführt. Dein Neues Testament hat wie ein lebendiger Strom mein hartes Herz erweicht und meinen Durst gestillt und fließt noch weiter, auch andere Seelen erquickend und belebend. Gepriesen sei dafür dein und mein Gott! Amen!"


Diese Geschickte bringt auch heute Segen des HERRN in die Herzen der Aufrichtigen!!!