Seinen Spitznamen "Smoljonyj"
(Schmierfink) erhielt Pawel, als er acht Jahre alt war unter besonderen
Umständen, von denen später noch die Rede sein wird. Sein eigentlicher
Familienname war Tichomirow. Er war der Sohn eines Bauern aus einem der
ärmsten Dörfer des Gouvernements Mogilew. Die Familie bestand
aus Vater Mutter und zwei kleinen Kindern - der zehnjährigen Schura
und dem achtjährigen Pascha. Sie lebten in Eintracht, waren religiös
nach rechtgläubiger Art und erfreuten sich der Achtung nicht nur
der Bewohner ihres eigenen Dorfes, sondern auch des ganzes Kirchspiels.
An Feiertagen besuchte sie sogar der Ortsgeistliche, um mit dem Vater
Karten zu spielen.*
*Anmerkung der Redaktion: Wir dürfen wohl bei jedem Leser voraussetzen,
dass wir die geschilderten Verhältnisse nicht unbedingt als christlich
ansehen.
Sie spielten nicht um Geld,
sondern lediglich zum Zeitvertreib, bald "Duratschki" (Schafskopf),
bald das sogenannte "Nasenspiel", bei welchem es üblich
war, dass der Verspieler sich mit den Karten auf die Nase schlagen lassen
musste. Wenn einer von den beiden Spielern Geld bei sich hatte, wurden
die Kinder nach Branntwein geschickt; alle gerieten in fröhliche
Stimmung, und der Priester, allgemein "Väterchen" genannt,
pflegte dann zu sagen: "Mit Maß trinken ist keine Sünde;
selbst der Herr Jesus hat die Freude geliebt und auf der Hochzeit zu Kana
das Wasser in Wein verwandelt." - Die Kinder standen dabei und beobachteten
mit Interesse, wie die Nase des Priesters allmählich sich rötete,
sei es von dem Branntweingenuss oder von dem Kartenschlagen, die ihm der
Vater, der meistens das Spiel gewann, geschickt verabfolgte. Der gutmütige
Priester sagte dann mit krächzender Stimme: "Wer bis ans Ende
beharrt, der wird selig; auch an mich wird einmal die Reihe kommen; dann
nimm dich in acht, mein Lieber; es steht geschrieben: "Seid niemand
nichts schuldig" und: "Mit welcherlei Maß ihr messet,
wird euch gemessen werden."
Aber gar bald nahm dieses fröhliche Leben ein Ende. Mehrere aufeinanderfolgende
Mißernten zwangen die Bauern des Dorfes Sosnowka, an die Übersiedlung
nach Sibirien zu denken. Gruppenweise besprachen sie diese Angelegenheit,
und endlich beschloss man, Boten auszusenden, die in einem der sibirischen
Gouvernemente ein geeignetes Stück Land ausfindig machen sollten.
In die Zahl dieser Landsucher wurde auch Tichomirow gewählt, weil
er ein kluger und geschickter Mann war. Nach drei Monaten kamen die Boten
zurück. Sie hatten im Gouvernement Tomsk Land gefunden. Nach dem
die Übersiedler ihr Hab und Gut veräußert hatten, begaben
sie sich auf den Weg. In einem der vielen langen Übersiedlungszügen
nahmen die Bauern aus Sosnowka einige Wagen ein. Das geschah im Jahre
1897.
Während der Fahrt hatten die nur langsam vorwärtskommenden Züge
einige längere Aufenthalte auf den Um-steigebahnhöfen Samara,
Tscheljabinsk und Omsk. Wochenlang mussten die Übersiedler hier auf
die Züge zur Weiterreise warten und Tag und Nacht in den engen Bahnhofsräumen
auf dem Fußboden liegend zubringen. Das abgekochte Wasser in den
Behältern reichte nicht für alle aus; das warme Essen in den
Büffets konnten sie sich nicht leisten; so stürzten sich dann
die armen, hungrigen Menschen auf getrocknete Heringe und gedörrte
Fische und tranken ungekochtes Wasser. Die Folge war, dass sich zuerst
Magenerkrankungen und dann die Cholera einstellten. Es wurden hauptsächlich
Erwachsene von der Epidemie befallen. Auf der letzten Strecke vor Tomsk
erkrankte auch Tichomirow. Alle Anzeichen deuteten auf Cholera. Zum entsetzen
seiner Frau und der Kinder wurde er auf einer Station aus dem Zuge geholt
und in eine Baracke für ansteckende Krankheiten gebracht. Selbstverständlich
verließ auch Frau Tichomirow mit den Kindern den Zug und richtete
sich unweit der Baracke hinter den an der Eisenbahnstrecke aufgestellten
Schneeschutzwänden ein, um sich täglich nach dem Befinden ihres
Mannes zu erkundigen. Mit jedem Male wurde die Auskunft trauriger. So
vergingen drei Tage, da erklärte die von Leid geschlagene Mutter
ihren Kindern, dass auch sie krank sei. Eine herzzerreißende Szene
folgte nun, als die Krankenträger den weinenden Kindern die geliebte
Mutter entreißen mussten. Mit ihr verloren sie die letzte Stütze.
Schweren Herzens trennte sich die Mutter von ihren Kindern, denn sie ahnte,
dass sie sie nie wieder sehen würde. Aber schrecklicher als der Tod
war für sie der Gedanke, dass ihre geliebten Kinder nun in einer
fremden Gegend vollkommen verwaisen sollten.
Nun wurde auch die Mutter in die Baracke gebracht. Schreiend liefen die
Kinder hinter den Trägern her, bis die schwere Barackentür vor
ihnen zugeschlagen wurde. Wie einsam und unglücklich kamen sich nun
Schura und Pawel vor. Wie unsinnig rannten sie um die Baracke, bald nach
dem Vater, bald nach der Mutter rufend . . . Als Antwort bekamen sie nur
die rohen Zurufe der Wächter zu hören, die ihnen mit Schlagen
drohten, falls sie nicht von der Baracke weichen würden. Aber die
Kinder hörten nicht auf zu schreien und um Einlass zu flehen. Sie
wollten mit den Eltern sterben, ohne die sie nicht mehr leben mochten.
So umliefen sie die Baracke bis zum späten Abend, und erst die kalte
Nacht zwang sie, an die warmen Kleider zu denken, die sie mit den anderen
Sachen bei den Schneeschutzwänden zurückgelassen hatten. Als
sie an der Stelle ankamen, wo sie zuletzt mit ihrer Mutter vor deren Erkrankung
gehaust hatten fanden sie auch nicht die Spur von dem Gepäck; scheinbar
hatte es irgend jemand nach den ärmlichen Habseligkeiten der Übersiedler
gelüstet . . .
Die Kinder verkrochen sich zwischen die Schneeschutzwände und schmiegten
sich eng zusammen, um sich einiger maßen zu erwärmen. Schura,
als die ältere, war sehr besorgt um ihr Brüderchen; bis zum
Tagesanbruch tat sie kein Auge zu, und die Nacht dünkte sie eine
Ewigkeit. Kaum war Pascha erwacht, da eilten die Kinder wieder zur Baracke.
Der erste Wächter, den sie dort trafen, sagte zu ihnen: "Kommt
nicht wieder; heute morgen haben wir die Leiche eures Vaters hinausgetragen,
und auch eure Mutter wird wohl heute noch sterben."
Es war unmöglich, die Kinder zu bewegen, sich von der Baracke zu
entfernen. Immer wieder schauten sie durch die Fenster und riefen nach
der Mutter. Sollte denn für immer ihre traute Stimme schweigen, würde
auch sie am Abend nur eine kalte Leiche sein?
Ja, am Abend erfuhren sie, dass auch die Mutter gestorben sei. Sich gegenseitig
umarmend, saßen sie bei den Schneeschutzwänden und weinten
bitterlich. In dieser Nacht schlief auch Pascha nicht, er weinte unaufhörlich
und sehnte sich nach den geliebten Eltern. Mit dem Rücken den Schneeschutzwänden
zugewandt, schaute er auf die sich in der Ferne verlierenden Eisenbahnschienen
und durchlebte noch einmal in seiner Kindesvorstellung qualvoll all die
schrecklichen Ereignisse der letzten Tage. Endlich sagte er, als er den
herannahenden Zug erblickte: Schura, ich will nicht mehr leben ohne Vater
und Mutter. Komm, wir legen uns auf die Schienen. Die Lokomotive mag uns
zerdrücken, dann sind wir tot. Wozu sollen wir noch leben? Wem können
wir noch etwas nützen?" Bei diesen Worten ergriff Pascha seine
Schwester bei der Hand und zerrte sie zum Bahnkörper. Schura wurde
vom Entsetzen gepackt. Sie umarmte ihr Brüderchen und rief schluchzend:
"Nein, um nichts in der Welt gehe ich unter den Zug und lasse auch
dich nicht ... Ich fürchte mich ... Es ist schrecklich!" - "Lass
mich, ich laufe dann allein hin!" schrie der Knabe.
Während sie noch miteinander redeten, brauste der Zug an ihnen vorüber.
Pascha warf sich mit dem Gesicht auf die Erde und fing an, laut zu klagen:
"Warum hast du mich zurückgehalten? Ich will nicht mehr leben!"
Sein verständiges Schwesterchen redete jedoch freundlich auf ihn
ein, um ihn zu bewegen, von seinen finsteren Gedanken zu lassen. Es dauerte
lange, bis er endlich ruhig wurde und versprach, nicht mehr an den Tod
zu denken und sie nicht allein zu lassen auf dieser Welt.
Darauf setzten sich die Kinder, eng aneinandergeschmiegt, wieder in ihren
Schlupfwinkel und warteten den Tagesanbruch ab. Sie beschlossen, morgens
zum Grabe ihrer Eltern zu gehen. Unendlich lange zog sich die kalte Nacht
für die frierenden und hungrigen Kinder hin. Als endlich der Morgen
anbrach, eilten die beiden zum Friedhof, wo in einer besonders abgeteilten
Ecke die an ansteckenden Krankheiten Verstorbenen beerdigt wurden. An
der Pforte baten die Kinder den Friedhofswärter um Einlass und fragten
ihn nach dem Grabe ihrer Eltern. Aber er antwortete ihnen in harschem
Ton: "Wie viel Leichen sind allein in dieser Nacht hergebracht worden!
Wie kann ich wissen, wen man hier beerdigt! Außerdem wirft man etwa
zehn Tote in ein Loch, manchmal sogar zwanzig!"
Da sie nichts erreichen konnten, schauten sie mit verweinten Augen durch
die Ritzen des Zaunes hinüber zu den in unordentlichen Gruppen liegenden
Grabhügeln aus nassem Lehm. Lange standen sie dort, weinend und auf
die Gräber blickend, bis der Wärter sie forttrieb. Hand in Hand,
vom Kummer niedergedrückt, gingen die Kinder schweigend zurück
zu den Schneeschutzwänden, den Zeugen ihrer schweren Erlebnisse während
der letzten fünf Tage und der Trennung von ihrer geliebten Mutter.
Dieser Ort war für sie, die gänzlich verwaisten, zur zweiten
Heimat geworden. Unter dem Schutz der Wände ringen sie nun an zu
überlegen, was sie weiter tun sollten. Bei dem Gedanken, dass sie
nun in eine Waisenbaracke geraten könnten, wurde ihnen bange, und
doch erkannten sie, dass das ihre Rettung vor dem Hunger sein würde,
der sich mehr und mehr bemerkbar machte. Ihr geringer Lebensmittelvorrat
sowie ihr letztes Bargeld, war ihnen mit dem Gepäck zusammen verlorengegangen.
Angst beschlich die einsamen Kinder, sie waren hungrig und froren. Hoch
über ihnen sangen die Lerchen fröhlich ihre Frühlingslieder,
die hellen Sonnenstrahlen vergoldeten alles ringsumher -, nur in den Herzen
der beiden Waisen war es dunkle Nacht. Das Leid hatte die Geschwister
inniger miteinander verbunden. Schura versuchte, ihrem kleinen Bruder
die Mutter zu ersetzen: sie liebkoste ihn und tröstete ihn mit folgenden
Worten: "Wir wollen nicht verzagen, mein Lieber! Gott wird uns nicht
verlassen!"
Schon hatten die Kinder beschlossen, in das dem Bahnhof nächstliegende
Dorf zu gehen und um ein Stück Brot zu bitten, als sie plötzlich
über sich einen rohen Zuruf hörten: "Was tut ihr hier?
Wem gehört ihr?" Vor ihnen tauchte ein unbekannter Mann in Uniform
auf und sah sie forschend an. Sie wurden ganz verwirrt, so dass sie nicht
sofort sagen konnten, dass sie Kinder von Übersiedlern seien und
daß sie ihre Eltern vor kurzem verloren hatten. Der Unbekannte befahl
ihnen, ihm zu folgen und führte sie in das Verteilungslager. Hier
wurden sie sofort für die Waisenbaracke bestimmt, wohin sie ungern
gewollt hatten, weil ihnen da die Trennung drohte; denn die Baracke für
Mädchen befand sich einige Bahnstationen von hier entfernt. Aber
ungeachtet der Bitten und Tränen der Kinder, wurde Pascha nach der
etwa drei Kilometer entfernten Baracke für Knaben gebracht, während
Schura mit dem nächsten Zug bis zu jener Station fahren musste, in
deren Nähe die Mädchenbaracke lag. Man kann sich leicht den
Trennungsschmerz der Kinder vorstellen; verlor doch jedes in dem anderen
alles, was ihm auf dieser Erde noch teuer war.
Pascha kam in eine Baracke, in der bereits dreihundert Knaben untergebracht
waren. Viele von ihnen lebten hier schon lange; sie hatten sich an die
neuen Verhältnisse gewöhnt und waren recht ausgelassen. Mit
Spaßen, derben Püffen und Stößen wurde der Neuling
von den Knaben begrüßt. Bereits nach einer Woche beschäftigte
Pascha nur noch der Gedanke an eine Flucht aus der Baracke. Die ganze
Umgebung, die Gleichgültigkeit gegenüber den Nöten der
Kinder, die Roheit vieler Zöglinge, ihr Zank und Streit sowie die
widerliche Fastensuppe zu jeder Mahlzeit waren ihm unerträglich.
Nun wartete er auf einen geeigneten Augenblick für die Flucht. Es
war den Knaben verboten, die Baracke ohne Begleitung zu verlassen. Aber
Pascha durfte nicht säumen. In einer dunklen Nacht ging er hinaus,
kletterte an einer niedrigen Stelle über den Bretterzaun und lief
wie gehetzt in die der Eisenbahnstrecke entgegenliegenden Richtung. Etwa
fünf Kilometer von der Baracke entfernt begann der große Wald.
Hier angekommen, fühlte sich Pascha etwas beruhigter. Jetzt lief
er nicht mehr, sondern ging, stets bemüht, den Waldesrand nicht aus
den Augen zu verlieren, um sich nicht zu verirren und sich doch möglichst
schnell von der Baracke zu entfernen. Lange wanderte er so dahin. Endlich
übermannte ihn die Müdigkeit, er legte sich unter einen Baum
und schlief bald ein. Nachts träumte er, dass man ihn eingeholt und
in die Baracke zurückgebracht hatte. Dort schlug man ihn und goss
ihm unaufhörlich die widerliche Fastensuppe in den offenen Mund .
..
Die warme Frühlingssonne stand bereits hoch am Himmel, als der kleine
Flüchtling erwachte. Der vielstimmige Gesang der Vögel betäubte
ihn förmlich, und es hatte den Anschein, als wollten die gefiederten
Sänger sich mit ihrer Kunst vor dem Eindringling in ihr grünes
Reich brüsten. Pascha richtete sich auf und überlegte, was nun
wieder zu tun sei. Er beschloss, in sein Heimatdorf Sosnowka zu gehen;
den Namen seines Gouvernements hatte er noch nicht vergessen. Wie gut
hatte er es einst in Sosnowka gehabt! Er erinnerte sich noch des herrlichen
Flüsschens, in dem er mit den ändern Kindern zusammen gebadet
und Fische geangelt hatte . . . Sehr gerne hätte er noch vorher seine
liebe Schwester gesehen; aber wo und wie sollte er sie finden? Zudem war
ihm der Gedanke schrecklich, dass man ihn finden und wieder in die Baracke
zurückbringen konnte. So beschloss er denn, tapfer weiterzugehen,
um möglichst weit von der widerlichen Baracke fortzukommen; dann
wollte er sich genau nach dem Weg in die Heimat erkundigen.
Er ging den ganzen Tag, stets die Ansiedlungen meidend. Nur in einem Dorf
bat er um ein Stückchen Brot. Als die zweite Nacht hereinbrach, ging
er tiefer in den Wald hinein, um dort zu übernachten. Er legte sich
unter einen großen Baum und schlief fest ein. Vor Tagesanbruch wurde
er durch einen Puff geweckt, und jemand rief ihm mit lauter Stimme zu:
"Heda, steh auf, Kleiner! Was liegst du hier? Mit wem bist du hier?"
Als Pascha sich erhob, sah er vor sich drei kräftige, vom Kopf bis
zu den Füßen bewaffnete Kerle und erschrak ordentlich. "Fürchte
dich nicht, wir tun dir nichts. Erzähle, wie du hierher gekommen
bist." Als Pascha merkte, dass diese Leute nicht aus der Baracke
gekommen waren, erzählte er ihnen freimütig alles, was er erlebt
hatte und wohin er gehen wollte. Sie hörten ihm aufmerksam zu: der
kühne und verständige Knabe schien ihnen zu gefallen. Nach kurzer
Beratung beschlossen sie, ihn mitzunehmen. "Damit er nicht umkommt",
sagten sie. "Aus dem Jungen kann noch etwas Tüchtiges werden.
Er hat sich nicht gefürchtet, aus dem Waisenhaus zu entfliehen, und
jetzt wollte er sogar den weiten Weg in seine Heimat allein antreten!
Wir müssen ihn jetzt nur noch nach unserer Art erziehen." -
Sie teilten ihren Beschluss dem Jungen mit, wobei sie ihre Lebensweise
lobten und ihm versprachen, dass er es bei ihnen sehr gut haben sollte.
Pascha wagte nicht zu widersprechen; denn er fürchtete sich vor diesen
bewaffneten Männern. Er ging mit ihnen in das Innere des Waldes.
Auf einer Lichtung wartete ein kräftiger Bursche mit gesattelten
Pferden auf sie. Er griff Pascha unter die Arme, setzte ihn vor sich auf
sein Pferd, und sie trabten davon.
Nach langem Ritt auf gewundenen Waldwegen hielten sie endlich an. Die
Pferde wurden abgeführt, während sie selbst, Pascha hinter sich
herziehend, in gebückter Haltung durch eine Öffnung schlüpften,
die sich aus vom Sturm geknickten Bäumen gebildet hatte. Nachdem
sie einige Minuten durch dichten Walt gegangen waren tat sich vor ihnen
eine Lichtung auf. Hier befanden sich etwa zwanzig Personen, größtenteils
bewaffnete Männer und einige Frauen. Aller Augen richteten sich auf
den mitgeführten Jungen, der so schmutzig und zerrissen aussah. Er
wurde sofort mit Fragen überschüttet: wer er sei, woher er komme
usw. Einer der Männer, anscheinend der Anführer der Bande, fragte
ihn: "Wie heißt du?" - "Pascha Pawel", antwortete
der Knabe mit fester Stimme. "Und wie lautet dein Familienname? -
"Tichomirow" - Der Name passt nicht zu uns; du wirst von nun
an "Smoljonyj" (Schmierfink) heißen, da du so dreckig
und schmierig aussiehst", sagte scherzend der Anführer. Seit
der Zeit nannte man ihn nicht anders als "Smoljonyj"; der neue
Familienname gefiel allen sehr.
Pascha wurde es nun klar, dass er in eine Räuberbande geraten sei.
Allmählich wurde er mit dem neuen Leben vertraut und fand schließlich
sogar Gefallen daran. Die sorglose Freiheit, das gute Essen und die fröhliche,
angeheiterte Stimmung - das alles stimmte ihn günstig für diese
Leute, und er hörte auf, an Sosnowka zu denken. Nur seine Schwester
Schura konnte er nicht vergessen und oft trauerte er um sie, da er annahm,
dass sie nicht mehr am Leben sei.
Der kleine "Smoljonyj" wurde bald der Liebling aller Räuber
und diente ihnen zum Zeitvertreib. Er wiederum interessierte sich lebhaft
für ihre Abenteuer und wartete ungeduldig auf jede neue Beute. Von
Tag zu Tag wurde er vertrauter mit dem neuen Leben und vergaß bald,
was ihm seine Eltern einst über die Sünde des Stehlens gesagt
hatten. Es war ihm sogar angenehm, die geraubten Sachen zu betrachten
und den Erzählungen der Räuber zu lauschen, wenn sie von ihrer
"Arbeit", wie sie ihr böses Handwerk nannten, zurückkehrten.
Es vergingen acht Jahre, und der sechzehnjährige "Smoljonyj"
nahm bereits tätigen Anteil an den Raubzügen und Plünderungen
der Bande. Wegen seiner Tapferkeit, Gewandtheit und Auffassungsgabe wurde
er bald der Gehilfe des Anführers. Ihre "Arbeit" jagte
der Bevölkerung in einem Umkreis von etwa hundert Kilometern Schrecken
ein. Die dichten Wälder ermöglichten es ihnen, ihr Werk ruhig
weiterzutreiben. Es schien, als könne sie niemand finden und ihre
Tätigkeit stören. Sie beraubten jeden, der ihnen in die Hände
fiel, und nicht selten verübten sie sogar Morde.
Doch jedes Ding währt seine Zeit. Ein für die Räuber ganz
einfacher Fall brachte unerwartet einen völligen Umschwung in ihr
Leben. Es war Spätherbst. Ein Teil der Bande, mit "Smoljonyj"
an der Spitze, überfiel zwei Männer, die durch den Wald gefahren
kamen, töteten und beraubten sie. Die Räuber entführten
die Pferde und nahmen auch die Kleider und Stiefel der Ermordeten an sich.
An Geld fanden sie nur 3 Rubel und 50 Kopeken. In einem Sack entdeckten
sie außer allerlei Hausgerät zwei Bücher. Anfänglich
wollten die Männer die Bücher wegwerfen, doch besannen sie sich
eines besseren und nahmen sie als Zigarettenpapier mit. "Smoljonyj"
steckte die Bücher zu sich. Nachdem er abends die im Laufe des Tages
geraubten Sachen noch einmal besichtigt hatte, zog er die Bücher
hervor und fing an, sie durchzulesen. Eines der Bücher trug die ihm
unbekannte Aufschrift "Glaubensstimme". Das andere war ein Neues
Testament. An dieses Buch hatten sich ihm noch schwache Erinnerungen aus
der Kindheit bewahrt: ein Neues Testament hatten auch seine Eltern in
Sosnowka gehabt. Auf seiner Pritsche liegend fing ,Smoljonyj" vor
Langeweile an, die Stellen zu lesen, die sich ihm beim Öffnen "des
Buches gerade boten. So las er: " - Da ist nicht, der nach Gott frage
. . . Ihr Schlund ist ein offen Grab; mit ihren Zungen handeln sie trüglich;
Otterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit.
Ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; in ihren Wegen
ist eitel Schaden und Herzeleid, und den Weg des Friedens wissen sie nicht.
Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen" (Rom. 3, 11 - 18). Er
überlegte: Früher hat es auch schon solche Leute gegeben, wie
wir es sind. "Ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen
. . ." Da tauchte in seiner Erinnerung das Bild auf, wie sie auf
ihren schnellen Pferden den beiden Reisenden nachgejagt waren, wie dieselben
sie um Schonung ihres Lebens gebeten hatten: aber ohne das geringste Erbarmen
hatten er und seine Genossen sie getötet. Bei dieser Erinnerung wurde
ihm eigentümlich zumute, und er sann weiter nach: "Wer mögen
wohl diese Leute gewesen sein? Weshalb führten sie dieses Buch mit
sich?" Er fing an in dem Neuen Testament zu blättern in der
Hoffnung, irgendwelche Mitteilungen über die Ermordeten zu finden.
Aber er fand kein Dokument, aus dem man hatte erfahren können, wer
die beiden gewesen und woher sie gekommen waren. Nur auf dem Titelblatt
befand sich folgende Aufschrift: "15. Mai 1898 - der Tag meiner Bekehrung
zum Herrn, meiner Buße und Wiedergeburt. An diesem Tag hat Er mir
meine Sünden vergeben und mich gewaschen mit Seinem heiligen Blute."
Smoljonyj verstand den Sinn dieser Worte nicht, und er blätterte
weiter, einzelne Stellen des Buches lesend. "Wisset ihr nicht, dass
die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? . . ." Hierauf
folgt die Aufzählung verschiedener Laster, und dann kamen die Worte:
"Und solche sind euer etliche gewesen; aber ihr seid abgewaschen,
ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn
Jesu und durch den Geist unseres Gottes" (1. Kor. 6, 9 - 11). Darauf
las er das Gebet eines Menschen, der da sprach: "Herr, die Hälfte
meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich jemand betrogen habe,
das gebe ich vierfältig wieder." (Lukas. 19, 8). Er schlug einige
Seiten um und wurde von dem 23. Kapitel des Lukas Evangelium hingerissen,
in welchem die Kreuzigung Jesu geschildert wird. Von besonderem Interesse
für ihn war, dass mit Christus auch zwei Mörder gekreuzigt wurden,
von denen der eine Buße tat und seine Sünden bekannte, wofür
ihm Jesus das Paradies verhieß.
Smoljonyj klappte das Buch zu und legte es unter das Kissen. Dann hüllte
er sich in seine Decke und versuchte einzuschlafen. Aber der Schlaf floh
ihm. Sein Herz war voller Unruhe. Alle seine Bemühungen, die aufdringlichen
Gedanken von sich zu weisen und einzuschlummern, waren vergeblich. Immer
wieder stieg in seiner Erinnerung das Bild auf, wie jene beiden Reisenden
auf ihren Knien liegend um Schonung ihres Lebens flehten ...
Erst gegen Morgen fiel Smoljonyj in einen schweren Schlaf und erwachte
dann mit neuer Unruhe im Herzen. Alle Kameraden bemerkten den besonderen
Ausdruck auf seinem Gesicht und wussten nicht, welchem Umstände sie
das zuschreiben sollten. Einige meinten, er sei erkrankt. Tagelang ging
er verwirrt einher, und niemand vermochte aus ihm herauszukriegen, was
eigentlich mit ihm geschehen sei. Seine Kameraden hörten nicht auf,
nach der Ursache seines Trübsinns zu forschen, und endlich erklärte
er einigen von ihnen, dass er nicht mehr ruhig werden könne, seitdem
er etwas in dem Buche gelesen habe, das sie bei den Getöteten gefunden
hatten. Bei dieser Erklärung bemächtigte sich aller ein eigentümliches
Gefühl: was mochte das für ein Buch sein, durch welches der
fröhliche Kamerad so traurig geworden war? Die einen verlangten die
Herausgabe des Zauberbuches, um es zu verbrennen; andere baten interessiert,
ihnen das Buch zu lesen zu geben. Endlich beschloss man, das Buch gemeinsam
zu lesen. Als alle beisammen waren, las Smoljonyj ihnen die Stellen vor,
die ihn so erschüttert hatten. Gespannt hörten sie zu. Gleich
zu Anfang erklärte ein junger Räuber mit Bestimmtheit, dass
dies Buch ein Testament sei und dass er es gut kenne. "Meine Mutter
war eine Stundistin", sagte er, "und las stets in den Evangelien.
Sie führte mich oft in die Kinder Versammlung, wo dieses Buch gelesen
und wo gesungen und gebetet wurde."
Lange saßen die Männer beim Lesen des Buches zusammen und gingen
dann schweigend auseinander. Die Mehrheit war in gedrückter Stimmung,
niemand konnte begreifen, weshalb das Buch einen so starken Eindruck auf
sie gemacht hatte. Seit jenem Tage versammelten sich die Räuber von
Zeit zu Zeit, um das Neue Testament zu lesen. Dessen Wirkung war so mächtig,
dass sie sich seinem Einfluss nicht entziehen konnten.
Es verging ein ganzer Monat, da erklärte der junge Räuber, dessen
Mutter eine Stundistin gewesen war, seinen Kameraden offen, er könne
sein verbrecherisches Handwerk nicht mehr fortführen. Nach ihm erklärte
dasgleiche auch Smoljonyj. Sämtliche Räuber hatten die beiden
bereits beobachtet, wie sie mit Tränen in den Augen gebetet hatten.
Endlich folgte auch der Anführer der Bande ihrem Beispiel. Alle waren
mit ihm einverstanden. Aber da tauchte vor ihnen die Frage auf, was sie
nun tun und wie sie den neuen Lebensweg betreten sollten. Denn dazu müssten
sie sich vor allen Dingen dem Gericht ausliefern. Und dann - würde
es ihnen möglich sein, wenn auch nicht zehnfältig, so doch wenigstens
teilweise den Schaden gutzumachen. Alle durch sie Geschädigten zufriedenzustellen?
Das war natürlich unmöglich. Es blieb also nur die Auslieferung
an die Obrigkeit übrig. Doch damit war die Mehrheit nicht einverstanden;
nur jener junge Räuber, der sich als erster entschieden hatte, ein
neues Leben anzufangen, und mit ihm Smoljonyj und noch fünf Männer
beschlossen, vor den Vertretern des Gesetzes ihre ganze Schuld zu bekennen.
So kam der Tag der Trennung herbei. Der Abschied war rührend. Die
Kameraden baten Smoljonyj, ihnen zum Schluss noch etwas aus dem Neuen
Testament vorzulesen. Er schlug die Stelle auf, wo die Begegnung Jesu
mit den beiden Besessenen geschildert wird; wie sie aus den Höhlengräbern
herauskamen, wie Jesus die bösen Geister von ihnen austrieb und wie
sie dann als Geheilte Ihm nachfolgten. "So ist es auch uns ergangen",
fügte Smoljonyj hinzu. "Wir sind im Begriff, unser sündiges
Leben aufzugeben. Lasst uns aufhören, den Menschen Böses zu
tun und Christus nachfolgen!" Nach diesen Worten fiel Smoljonyj auf
die Knie und bekannte mit lauter Stimme seine Übertretungen. Seinem
Beispiel folgten auch die ändern. Bei dem allgemeinen Weinen und
Stöhnen hörte man nur einzelne Worte und unzusammenhängende
Ausrufe: "Vergib! . . . uns . . . mir . . . gedenke ... ich werde
nicht mehr . . .ich will nicht . . . ich verspreche! . . ." usw.
Nachdem die sieben Räuber sich von ihren Kameraden mit einem Kuss
verabschiedet hatten, gingen sie, die Waffen in der Hand, in die nächste
Stadt, während die ändern verschiedene Wege einschlugen.
Festen Schrittes und entschlossen näherten sich Smoljonyj und seine
Kameraden der Stadt. Gleich auf der ersten Straße lenkten sie die
Aufmerksamkeit der Bewohner auf sich, die sich nicht erklären konnten,
woher diese Gruppe buntgekleideter und bewaffneter Menschen kommen mochte.
An der Ecke einer der Hauptstraßen fragten sie den Schutzmann, wo
der Staatsanwalt des Kreisgerichts wohne. Der Schutzmann wies auf ein
großes, zweistöckiges Haus in derselben Straße, und die
Räuber gingen hinein. Die hatten schon vorher verabredet, dass Smoljonyj,
der gewandteste von allen, dem Staatsanwalt ihre Sache vortragen sollte.
Die Räuber traten in ein großes, helles Zimmer mit Parkettfußboden,
in welchem bereits etwa zwanzig Menschen auf das Erscheinen des Staatsanwaltes
warteten. Vor dem Eingang zum Dienstraum stand ein Gerichtsdiener. An
diesen wandte sich Smoljonyj mit folgenden Worten: "Wir bitten Sie,
dem Herrn Staatsanwalt zu melden, dass wir ihn unbedingt sprechen müssen!"
"In welcher Angelegenheit kommen Sie?" - "In einer sehr
wichtigen", antwortete Smoljonyj. Der Diener verschwand hinter der
Tür. Und schon nach wenigen Minuten standen die Räuber vor einem
älteren, achtunggebietenden Herrn, der durch das unerwartete Erscheinen
der sieben bewaffneten Kerle etwas erregt war. Auch die Räuber, die
sich in der Taiga (Waldgebiet in Sibirien) zu diesem ungewöhnlichen
Schritt des freiwilligen Bekenntnisses entschlossen hatten, waren, als
sie dem Vertreter des Gesetzes Auge in Auge gegenüberstanden, aufgeregt.
"Gestatten Sie uns, Ihnen zu erklären, wer wir sind und wozu
wir uns hier eingefunden haben", begann Smoljonyj mit zitternder
Stimme. "Wir sind Räuber, doch brauchen Sie sich nicht vor uns
zu fürchten: wir sind gekommen, um Ihnen unsere Schuld zu bekennen
und Buße zu tun. Wir haben erkannt, was für ein großes
Unrecht wir getan haben und kommen nun, um die durch Gesetz für Räuberei
festgesetzte Strafe abzubüßen. Verfahren Sie mit uns, wie es
die Gerechtigkeit verlangt. Hier sind unsere Waffen, nehmen Sie sie hin."
Bei diesen Worten legten Smoljonyj und seine Gefährten rasch ihre
Waffen auf einen Haufen nieder.
Der Staatsanwalt wurde ganz verwirrt und konnte sich nicht sofort wieder
beherrschen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er dem Schuldbekenntnis
einer ganzen Gruppe von Menschen beiwohnte, die sich freiwillig den Händen
eines Vertreters des Gesetzes auslieferten. Endlich rief er die Polizei.
Nach wenigen Minuten erschien eine Abteilung bewaffneter Soldaten mit
dem Polizeihauptmann an der Spitze. Nach Abnahme des vorläufigen
Verhörs wurde ein Protokoll aufgestellt und dann die Sache dem Untersuchungsrichter
überwiesen. Als Smoljonyj während des Verhörs in allgemeinen
Zügen seine Leidensgeschichte schilderte und über die Ursache
sprach, die ihn und seine Genossen bewogen hatte, die verbrecherische
Lebensweise in den Wäldern aufzugeben, wurde der Staatsanwalt und
mit ihm alle Anwesenden sichtlich ergriffen, und nur mit Mühe konnten
einige ihre Tränen verbergen. Es wurde ihnen schwer, zu begreifen,
dass die mit den Verbrechern plötzlich vorgegangene grundlegende
Veränderung nur die Folge ihrer Bekanntschaft mit dem Evangelium
sein sollte.
"Ich will nicht mehr Smoljonyj heißen, sondern Pawel Tichomirow",
sagte der Jüngling, "ich will fortan Gott und den Menschen dienen
und ohne Murren die vom Gesetz vorgeschriebene Strafe auf mich nehmen.
Wir sind jetzt in ihren Händen." Diesen Worten pflichteten sämtliche
Kameraden bei.
Aufgeregt gab der Staatsanwalt den Befehl, die sieben Verbrecher unverzüglich
ins Gefängnis abzuführen und sie dort unterzubringen, bis zur
Beendigung der Untersuchung in Einzelheiten. Die ehemaligen Räuber
wurden darauf abgeführt. Der Staatsanwalt blieb mit dem Polizeihauptmann
allein im Dienstraum zurück. Lange besprachen sie miteinander dies
ungewöhnliche Ereignis. Denn gewöhnlich leugnen die Verbrecher
ihre Schuld oder sie gestehen sie nur unter dem Druck unanfechtbarer Beweise
und wenn sie auf frischer Tat gefasst werden; die Männer dagegen
waren freiwillig gekommen und hatten ein Bekenntnis abgelegt. Wie groß
muss die Kraft des Evangeliums sein, wenn es die Menschen so völlig
umgestaltet!
Der Polizeihauptmann entfernte sich, während der Staatsanwalt nach
Beendigung der Sprechstunde sofort seiner Frau das Erlebnis mit den Räubern
erzählte. Auch ihr Erstaunen war groß. Nach einigem Nachdenken
sagte sie: "Einer von den mit Christus gekreuzigten Mördern
tat auch Buße, aber er hing am Kreuz und konnte nicht entfliehen;
diese Menschen dagegen brauchten nicht zu kommen, sie konnten weiter ihr
Handwerk treiben und sich in der Taiga verstecken. Das ist einfach ein
erstaunlicher und in der Geschichte des Gerichtswesens nie dagewesener
Fall!"
Der Abend brach herein, aber der Staatsanwalt und seine Frau konnten sich
nicht beruhigen. "Was denkst du, Tanja", sagte der Staatsanwalt,
"sollten nicht auch wir das Neue Testament lesen? Vielleicht erfahren
wir, wodurch es so auf die Menschen wirkt, denn wir kennen es ja gar nicht."
- "Ich habe es schon gelesen", sagte Tatjana Alexandrow-na würdevoll,
"allein, ich verstehe nicht, was darin so auf die Räuber gewirkt
haben soll." Der Staatsanwalt, Jurij Nikolajewitsch, erhob sich und
ging in sein Bibliothekszimmer, ein Neues Testament zu suchen, während
seine Frau in die Küche eilte, um dort ihre Anordnungen für
das Abendessen zu treffen. Jurij Nikolajewitsch setzte seine Brille auf,
schlug das Neue Testament auf und begann darin zu blättern. Seine
Aufmerksamkeit wurde auf das 12. Kapitel des Johannes-Evangeliums gelenkt,
und er fing an zu lesen. Beim Lesen billigte er in Gedanken Marias Handlungsweise,
die für Christus wertvolle Salbe opferte, während er vom Standpunkt
des Kriminalisten aus den Verräter Judas, diesen heimlichen Dieb,
verurteilte und seine Taten unter die entsprechende
Gesetzesparagraphen stellte.
Er erstaunte ob der Allmacht Christi, der den Lazarus auferweckte, als
dessen Leib schon in Verwesung übergegangen war und wunderte sich
über den Unglauben der Schriftgelehrten, die sich doch sicherlich
unter den Augenzeugen des unerhörten Wunders befunden hatten. Er
sann tief nach über das Gleichnis vom Weizenkorn, welches zuvor ersterben
muss, ehe es Frucht bringen kann, doch vermochte er den wahren Sinn dieser
Allegorie nicht zu begreifen. Als er aber zu den Worten kam: "Wenn
ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen",
fühlte er, wie der Gekreuzigte ihm plötzlich so nahe trat, wie
seine Seele warm wurde und sich ausstreckte nach dem Kreuz, von welchem
einst das große Wort erklungen war: "Es ist vollbracht!"
Und er überlegte, ob das wohl die Kraft gewesen sei, die den Tichomirow
angezogen habe? Als er am Schluss des 12. Kapitels die Worte las: "Wer
mich verachtet und nimmt meine Worte nicht an, der hat schon, der ihn
richtet; das Wart, welches ich geredet habe, das wird ihn am Jüngsten
Tage richten", überfiel ihn ein gewisser Schrecken. Nun wurde
ihm klar, weshalb die Räuber ihr lasterhaftes Treiben aufgegeben
hatten . . .
Bald darauf kam Tatjana Alexandrowna aus der Küche zurück. "Worüber
denkst du nach, und was hat dich so erschüttert?" fragte sie
ihren Mann. Jurij Nikolajewitsch fing an zu erklären, doch vermochte
er das ungewohnte Thema und die ungewohnten Gedanken nicht in die rechten
Worte zu kleiden, und so verstand Tatjana Alexandrowna ihn nicht. Das
Abendessen war beendet. In der Nacht konnte Jurij Nikolajewitsch keinen
Schlaf finden. Sobald er die Augen schloss, hörte er die Worte: "Mein
Wort wird richten . . ." Uns es schien ihm, als sei er der Angeklagte
und als höre er die Paragraphen des göttlichen Gesetzes, die
ihn, den Staatsanwalt, für alle im Leben vollbrachten Vergehen richteten
und ihn zur ewigen Verdammnis in der
höllischen Finsternis verurteilten, und als suche und rufe er einen
Verteidiger und könne doch keinen finden. Dann fiel Jurij Nikolajewitsch
in einen kurzen Schlaf; aber auch im Schlaf fand er keine Ruhe. Am Morgen
erzählte er seiner Frau, was er am Abend und in der Nacht durchlebt
hatte. Sie schrieb aber seinen Zustand dem überanstrengenden Dienst
und seiner Nervosität zu. Und als er ihr sogar erklärte, daß
er beschlossen habe, sein Amt niederzulegen, erschrack sie und meinte,
er habe den Verstand verloren. Jurij Nikolajewitsch blieb jedoch fest
in seinem Entschluss. Es war ihm klar geworden, dass der am Kreuz erhöhte
Gottessohn auch ihn, den Staatsanwalt, zu sich gezogen habe und von nun
an sein persönlicher Heiland sein werde.
Pawel Tichomirow und seine Kameraden wurden in Einzelzellen untergebracht.
Sämtliche Untersuchungsrichter, die die ehemaligen Räuber verhörten,
wunderten sich über den von ihnen unternommenen Schritt und staunten
besonders über die Tatsache, dass diese Menschen unter dem Einfluss
des Evangeliums völlig umgestaltet worden waren. So groß ist
also die Kraft dieses göttlichen Buches, wenn man mit verlangendem
Herzen und mit dem Wunsch, die Wahrheit zu erkennen, an es herantritt!
Bald sprach man in der Stadt nicht nur von der Umkehr der ehemaligen Räuber
und der plötzlichen, unerklärlichen Abdankung des Staats-anwaites,
sondern auch davon, dass der Gefängnispriester die Isolierung der
früheren Verbrecher gefordert habe unter der Behauptung, Tichomirow
und seine Genossen verführten die ändern Sträflinge zur
Annahme ihres Glaubens. Aber es war schwer, das Feuer des Evangeliums
zu dämpfen, und es loderte in allen Zellen auf. Viele Gefangene und
auch einige Gefängniswärter hatten das 12. Kapitel aus der Apostelgeschichte
fast auswendig gelernt, so gefiel es ihnen.
Nach einem Jahr standen die sieben Räuber vor dem Gericht. Der neue
Staatsanwalt brauchte angesichts ihres freiwilligen Bekenntnisses sich
in seiner Anklagerede nicht so stark um die Beweisführung zu bemühen.
Der frühere Staatsanwalt war jetzt Verteidiger für diese Menschen,
die alles bekannt hatten und nun ein arbeitsames und ehrliches Leben anfangen
wollten. Nichtsdestoweniger wurden sie zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Sie nahmen das Urteil in aller Demut entgegen in der Erkenntnis, dass
sie es verdient hatten und verzichteten auf ihr Recht, gegen das Urteil
Berufung einzulegen. Die Gerichtsverhandlung war öffentlich. Als
den Angeklagten das letzte Wort erteilt wurde, bereute ein jeder von ihnen
in schlichten Worten, dass er so viele Jahre den Menschen Unrecht zugefügt
habe und sprach dann von der Wirkung des Evangeliums auf sein Innenleben.
Viele von den Zuhörern wurden gerührt, und es war zu merken,
dass der Same des Wortes Gottes in viele Herzen zu keimen begann.
Nach Beendigung der Gerichtsverhandlung wurden die Sträflinge je
nach ihrer Bestimmung einzeln in verschiedene Gegenden verschickt, außer
Tichomirow und Solowjew, die ein und denselben Bestimmungsort hatten.
Beim Abschied versprachen sie einander, unter allen Umständen ehrlich
und dem Herrn treu zu bleiben und ändern von seiner Liebe zu erzählen.
Tichomirow und Solowjew wurden in die Gegend hinter dem Baikalsee gebracht.
In allen Etappengefängnissen, die sie auf ihrem Weg in die Verbannung
passieren mussten, erzählten sie von ihrer Errettung durch das Evangelium
und von der Liebe Gottes zu jedem bußfertigen Sünder. Überall
fanden sich Menschen, die mit besonderer Aufmerksamkeit ihrem schlichten
Zeugnis lauschten und es zu Herzen nahmen. Die Zwangsarbeiter, deren Los
Tichomirow und Sodowjew von nun an teilen mussten, waren besonders aufmerksame
Hörer des lebendigen Wortes, und nach einiger Zeit ergaben sich einige
von ihnen ganz dem Herrn. Nach zwei Jahren bemerkte auch die Gefängnisbehörde,
dass die sonst stets unruhigen Sträflinge stiller geworden waren
und dass einige sich tadellos aufführten.
Tichomirow hatte auf dem Wege in die Verbannung überall nach den
Ansiedlern aus dem Gouvernement Mogi-lew geforscht in der Hoffnung, irgend
etwas über den Aufenthaltsort seiner Landsleute und in erster Linie
auch seiner Schwester zu erfahren, und ob sie noch am Leben sei. Alle
Briefe, die er in seine Heimat schickte, blieben unbeantwortet. O, wie
oft musste er an sein liebes Schwesterchen denken! Wie gern hätte
er ihr von allen seinen Erlebnissen erzählt und über seine Bekehrung
von den toten Werken zur lebendigen Hoffnung in Christo berichtet!
Da geschah es, dass nach einigen Jahren aus Anlass irgendeines wichtigen
freudigen Staatsereignisses eine Amnestie erlassen wurde, durch welche
Pawel Tichomirow und Grigorij Solowjew vor ihrem Termin frei kamen. Als
sie sich von den durch sie in der Verbannung gläubig gewordenen Sträflingen
verabschiedeten, befahlen sie Gott ihre geistlichen Kinder; diese aber
weinten bei der Trennung. Tichomirow und Solowjew traten nun zu Fuß
den Weg in Richtung Irtusk - Tomsk an. Ihr innigster Wunsch war, sich
bis in ihre Heimat im europäischen Russland durchzuschlagen, deren
sie sich noch dunkel erinnerten. Jedermann, mit dem sie während ihrer
Wanderung oder in den Herbergen zusammentrafen, interessierte sich für
sie und fragte, wer sie seien, woher sie kämen und wohin sie gingen.
Die Lebensgeschichte der ehemaligen Räuber bewegte sie aufs tiefste,
und in vielen Herzen entbrannte der Wunsch, auch dem Herrn dienen zu dürfen.
In manchen Ansiedlungen fanden sie gläubige Geschwister, mit denen
sie die Abende in brüderlicher Aussprache und dem Lesen des Wortes
Gottes verbrachten. Die Gläubigen freuten sich über den Triumpf
des Evangeliums bei der Bekehrung der verlorenen Sünder und priesen
den Namen des Herrn. In einer Ansiedlung, wo sie den Sonntag zubrachten
und in einer großen Versammlung von ihrem früheren Leben und
ihrer Rettung Zeugnis ablegten, entstand eine Erweckung; eine Anzahl Seelen
bekehrten sich zum Herrn. Groß war die allgemeine Freude ob dieses
Ereignisses.
Es war in den ersten Frühlingstagen. Die Flüsse traten aus ihren
Betten, die ganze Natur lebte nach langem Winterschlaf auf; in großen
Scharen strebten die Zugvögel den heimatlichen Gestaden zu, wo sie
ihre Nester zurückgelassen, hatten -, auch Tichomirow'und Solowjew
eilten ihrer Heimat zu, wo man ihre Wohnungen längst zerstört
hatte . . . Sie hielten sich auf ihrer Wanderung in der Nähe der
Eisenbahnstrecke. Tichomirow bemühte sich vergeblich, auf den Namen
jener Eisenbahnstation zu kommen, wo er die Eltern und seine Schwester
verloren hatte. Er wollte so gerne jene Schneeschutzwände noch einmal
sehen, hinter denen er einst in seiner Kindheit so viel Schweres durchgemacht
hatte. Bei der Erinnerung an das Durchlebte rannen ihm die Tränen
über die Wangen, und er rief aus: "Ach, ihr meine Lieben ...
ihr habt mich allein gelassen, und nun muss ich einsam in der weiten Welt
umherirren!" Aber dann dachte er daran, wie auch der Sohn Gottes
auf Erden keinen Zufluchtsort hatte und selbst unter seinen Verwandten
einsam war.
Der Tag ging zu Ende, als sich die Wanderer einem kleinen Städchen
näherten, das am Ufer eines Flusses, unweit der Eisenbahn, lag. In
eine ihrer Straßen einbiegend, fragten sie die Leute: "Gibt
es hier Gläubige?" Man zeigte auf ein hübsches kleines
Haus inmitten hoher Tannen. Als sie sich dem Haus näherten, bemerkten
sie vor der Haustür zwei spielende Kinder und etwas weiter hinten
eine gut gekleidete Frau, die dort beschäftigt war und ihnen freundlich
zunickte. Die Männer traten an sie heran und knüpften ein Gespräch
mit ihr an; sie sagten ihr, dass sie gläubig seien und baten sie
um ein Nachtquartier. Die junge Frau führte sie freundlich ins Haus
und sagte dabei: "Für Brüder im Herrn findet sich immer
noch ein Plätzchen." Darauf rief sie ihren Mann, der im Garten
beschäftigt war; er kam sofort herein, begrüßte die Gäste
freudig und unterhielt sich mit ihnen. Seine Frau eilte hinaus, um den
Abendtee zu bereiten. Bis das Wasser in der Teemaschine zum Kochen kam,
hatte sie zwei Kühe gemolken und den Tisch gedeckt. Was gab es da
nicht alles: große Stücke frische Butter, einen großen
Milchtopf voll Rahm, zwei bis drei Sorten Gebäck, gekochte Eier und
herrliches Weißbrot -, all das lockte die Blicke der ausgehungerten
Wanderer an. Die große Lampe warf ihr helles Licht auf die schneeweiße
Tischdecke, und die blanke Teemaschine surrte fröhlich. Die freundliche
Hausfrau kam in ihrer weißen, mit Stickerei besetzten Schürze
herein und sagte zu ihrem Manne: "Bitte die Brüder zu Tisch."
Alle traten an die gedeckte Tafel, und der Hausherr bat um den Segen Gottes.
Er dankte dem Herrn für seine Liebe und Fürsorge, dankte für
die lieben Gäste und bat ihn, er möge sie im Glauben erhalten
und die Speise segnen. Tichomirow befand sich zum erstenmal in seinem
Leben an einem so reichlich gedeckten Tisch und in einer so gastfreundlichen
Familie. Sein Herz strömte über von Freude und Wonne. Die Kinder
des Hauses, ein Junge und ein Mädchen, nahmen ebenfalls ihre Plätze
an dem Tisch ein, schauten auf die Gäste und hörten aufmerksam
dem Gespräch zu. Tichomirow hatte die vor dem Abendessen angefangene
Erzählung an der Stelle unterbrechen müssen, wo die Räuber
im Walddickicht zum erstenmal das den ermordeten Reisenden geraubte Neue
Testament lasen. Auf die Bitte des Hausherrn setzte Tichomirow seine Erzählung
fort. In lebendigen Worten schilderte er, wie das Evangelium allmählich
in sein und seiner Kameraden Herzen eingedrungen sei, wie sie ihre Übeltaten
bereut und dann beschlossen hätten, ihre Lebensweise zu ändern
und sich der Justiz auszuliefern; wie der Staatsanwalt gläubig geworden
sei und wie man sie verurteilt hatte; er erzählte weiter von seinem
Aufenthalt in den Transportgefängnissen und von den Jahren, die er
in der Zwangsarbeit bis zur Amnestie zugebracht hatte. Die Gastgeber konnten
ihre Blicke von dem Erzählenden nicht losreißen, und die Hausfrau
wischte des öftern die Tränen ab, als wollte sie sie vor den
Augen der ändern verbergen.
Bei der Erzählung verging die Zeit unbemerkt; die große Uhr
kündete laut die Mitternachtsstunde an. Alle knieten nieder und dankten
Gott für seine herrliche Tat zur Errettung der verlorenen Sünder.
"Wohin wollen Sie aber jetzt gehen", fragte bewegt die Hausfrau,
als sich alle erhoben hatten. - "Wir haben beschlossen, in unsere
Heimat zu gehen", antwortete Tichomirow. - "Haben Sie denn dort
Verwandte?" fragte die weiter. - "Ja, Solowjew hat noch eine
Mutter, die gläubig ist und im Gouvernement Kiew lebt. Ich aber habe
niemand, weder Vater noch Mutter; ich gehe einfach mein heimatliches Nest
aufsuchen, das heißt mein Heimatdort im Gouvernement Mogilew. Vor
allen Dingen aber habe ich ein großes Verlangen, meinen Landsleuten
von Christus und Seiner Liebe zu ihnen zu erzählen." -
"Sind sie schon lange verwaist?" fuhr die Hausfrau fort. -
"Ich verlor meine Eltern, als ich acht Jahre alt war -, ich habe
sie hier in Sibirien, während unserer Übersiedlungsfahrt verloren.
Mein Vater starb zwei Tage vor dem Tode meiner Mutter."
Die Hausfrau griff mit beiden Händen nach dem Tisch und stand, vorn
übergebeugt, Tichomirow tief in die Augen blickend. Ihr Mann staunte
sie verwundert an und konnte nicht begreifen, weshalb sie den Gast so
gründlich ausforschte, anstatt die Betten für die Nacht herzurichten.
Tichomirow fuhr fort: "Wir, meine Schwester und ich, blieben als
Vollwaisen zurück; sie war etwas älter als ich. Am Tage nach
dem Tode meiner Mutter verlor ich sie aus den Augen, und bis heute weiß
ich nicht von ihr; sie ist sicher umgekommen, wie so viele verwaiste Kinder
bei den unmöglichen Lebensverhältnissen der Übersiedler
umkommen mussten. Sie war ein gutes Mädchen und sorgte für mich
wie die eigene Mutter." Und Tichomirow fing an zu weinen. Weiß
wie der Tod und von Tränen überströmt rief die Hausfrau
aus: "Bist du es etwa, mein lieber Bruder Pascha? Sag es mir schnell;
mein Herz sagt es mir, du seiest es." - "Schu-ra! Sehen dich
meine Augen wirklich? Du - mein Engel, meine liebe Schwester!" rief
er aus, wie ein Kind weinend.
- "Ja, ich bin es, ich bin deine Schwester, du, mein Lieber.
Wie hat meine Seele um dich gelitten!" Die Geschwister stürzten
sich in die Arme, küssten sich und weinten. Dann lief Tichomirow
auf die Kinder zu, die auf die Mutter blickend auch weinten; bald küsste
er die Kinder bald den Mann seiner Schwester.
An der allgemeinen Freude nahm auch Solowjew teil, der von dem unverhofften
Wiedersehen der beiden Geschwister gerührt war. O, was war das für
eine Freude! Schura war so aufgeregt, dass sie nicht wusste, was sie zuerst
angreifen sollte. Immer wieder trat sie an Pascha heran, umarmte ihn und
sprach: "Bist du es wirklich, mein Bruder? Sehe ich dich wirklich?
O, welch ein Glück! Als ihr euch unserem Hause nähertet, war
es mir, als habe ich etwas Wertvolles gefunden; Freude -, ich wusste nicht,
woher es kam. Ich war sofort bereit, euch zu bewirten und zu beherbergen.
Nach soviel selbstdurchlebter Not nehme ich auch sonst mit Freuden Hilfsbedürftige
auf, aber in diesem Fall schien mein Herz besonderes danach zu trachten.
Jetzt weiß ich auch warum: mein lieber Bruder war es ja, der zu
mir kam; zwanzig Jahre lang haben wir uns nicht gesehen. O, welch eine
Freude! . . ." Und wieder fielen sie auf die Knie und priesen Gott
mit solcher Inbrunst, wie nie zuvor. Alle lobten Gott, ja selbst das fünfjährige
Töchterlein Schura betete: "Lieber Heiland, ich danke Dir, dass
Du den Onkel Pascha zu uns geführt hast!" Alle weinten und Alexej
Wassijewitsch dankte Gott für das wertvolle Geschenk, das er seiner
Frau beschieden hatte.
Es war bereits drei Uhr nachts und noch schliefen sie nicht, selbst die
Kinder hatten sich nicht hingelegt. Sie tranken noch einmal Tee, plauderten
miteinander und gingen dann endlich vor Morgengrauen zu Bett, nachdem
sie sich dem Schütze Gottes befohlen hatten. Nach dem bewegten Erlebnis
war der Schlaf bei allen unruhig. Pascha träumte, dass er im Walde
den Räubergenossen das Evangelium vorlese . . . Der Abschied von
ihnen, der Staatsanwalt, das Gericht, die Transportgefängnisse, die
Zwangsarbeit . . . Als er erwachte und sich überzeugte, dass alles
nur ein Traum gewesen war, dankte er nochmals seinem Herrn. Beim Frühstücktee
- wieder dieselbe Bewunderung und das gleiche Staunen über die Gnade
Gottes und seine Sorge für die Waisen. Schura bat ihren Bruder, seine
Erlebnisse seit der Trennung bei den Schneeschutzwänden an der Eisenbahnstation
noch einmal zu schildern. Sie selbst hatte in der Baracke für Mädchen
auch viel zu leiden gehabt und war dort bis in den Spätherbst geblieben.
Als die Kälte sich einstellte und die Baracke nicht geheizt wurde,
brachen Epidemien aus, die die Kinder dutzendweise hinrafften. Da kamen
guten Menschen aus den benachbarten Dörfern und nahmen die Kinder
zu sich, um sie vor dem Erfrieren zu bewahren. Schura wurde von einer
armen gläubigen Witwe, die selbst vier Kinder hatte, aufgenommen.
In einer kleinen Hütte mit flachem Rasendach brachte nun Schura den
Winter bei Tante Dunja zu. Brot hatte sie genug. Tante Dunja pflegte stets
das Neue Testament zu lesen und mit den Kindern zu beten. In dieser Ansiedlung
befand sich auch eine Schule. Schura lernte fleißig, und das Lesen
machte ihr viel Freude, besonders gern las sie im Neuen Testament. Als
sie vierzehn Jahre alt war, bekehrte sie sich bewusst zum Herrn und bat
um Taufe. Es vergingen noch vier Jahre. Schura war zur Jungfrau herangereift.
Sie galt alt tüchtige Arbeiterin und war die beste Sängerin
im Chor. Jedermann liebte sie. Niemand kam es in den Sinn, dass sie nicht
die Tochter von Tante Dunja sei. Beide hatten einander sehr lieb. Der
Gemeindechor des Dorfes besuchte nicht selten die Nachbardörfer und
sogar die Städte, um für den Herrn zu wirken. Einst beschlossen
die Sänger, in das Städchen zu fahren, in welchem Schura jetzt
wohnte. Der Herr segnete ihren Dienst reichlich. Unter dem Einfluss der
geistvollen Ansprachen des Predigers, der mit dem Chor gekommen war, und
unter der Wirkung des wundervollen Gesanges bekehrte sich eine Anzahl
Menschen zum Herrn, darunter auch ein junger Buchhalter, der in einem
Handelshause angestellt war. Nach einem Jahr war er Schuras Mann, und
jetzt lebten die beiden in Liebe und Eintracht miteinander und hatten
zwei Kinder. Als Schura mit ihrem Bericht fertig war, erinnerte Pascha
sie daran, wie er sich nach dem Tode der Eltern unter den Zug hatte werfen
wollen, und wie sie ihn dann überredet hatte, diesen verzweifelten
Schritt nicht zu tun, indem sie sagte: "Verzage nicht, mein Lieber,
Gott wird uns nicht verlassen." Jetzt mussten Schura und Pascha an
die Worte des Psalmisten denken: "Singet Gott, lobsinget Seinem Namen
... Er heißt Herr; und freuet euch vor Ihm, der ein Vater ist der
Waisen und ein Richter der Witwen. Er ist Gott in seiner heiligen Wohnung;
ein Gott, der den Einsamen das Haus voll Kinder gibt; der die Gefangenen
ausführet zu rechter Zeit. . ." (Psalm 68, 5 - 7). Und sie priesen
aufs neue den Herrn.
Mit der Absicht ihres Bruders, in die Heimat zurückzukehren und seine
Verwandten und Bekannten zu Christus zu rufen, war Schura einverstanden,
doch trieb sie ihr Herz ihn auf seiner Reise zu begleiten und ihm in der
Arbeit an den unerlösten Seelen zu helfen. Alexej Wassiljewisch gab
gerne seine Einwilligung hierzu und versprach, auf den Jungen gut aufzupassen;
ihr Töchterlein beschloss Schura mitzunehmen. Das Reisegeld erhielten
sie von Alexej Wassil-jewitsch.
Nach drei Tagen befanden sie sich bereits auf der Fahrt nach dem europäischen
Russland. Endlich erreichten sie das Gouvernement Samara, dann folgten
Saratow, Pensa, Woronesh, Kursk und Kiew. In Kiew verabschiedete sich
Solowjew von Pascha und Schura und fuhr in sein Heimatdorf, in der Hoffnung,
nach dem Wiedersehen mit seiner Mutter zu ihnen zurückzukommen. Die
Geschwister fuhren weiter nach dem Gouvernement Mogilew. Da war auch schon
ihr Heimatdorf Sosnowka! Dort angekommen, fragten sie nach der Familie
Tichomirow, und es stellte sich heraus, dass in Sosnowka noch zwei Brüder
ihres Vaters, zwei Tanten und einige entfernte Verwandte lebten. Alle
verwunderten sich über das Auftauchen von Pascha und Schura, von
denen sie gehört hatten, dass sie nach dem Tode der Eltern vor Erreichung
des Reiseziels ebenfalls gestorben seien. Jedermann lud sie zu sich zu
Gaste ein. Bald erfuhren es alle, dass die wiedergefundenen jungen Verwandten
"Evangelisten" seien. Wenn sie aufgefordert wurden, die Freude
des Wiedersehens durch Trinken zu feiern, lehnten sie ab mit der Begründung,
dass sich so etwas für Christen nicht zieme. Aber weshalb denn nicht,
verwunderten sich die Dorfbewohner; waren sie doch auch Christen und tranken
trotzdem bei jeder Gelegenheit Branntwein. Hieran knüpfte sich dann
meistens eine Aussprache, und später ging man über zum Lesen
des Wortes Gottes. Großen Eindruck machte auf alle Paschas Schilderung,
wie er zum neuen Leben gekommen war. Fast jeden Abend versammelten sich
die Bewohner von Sosnowka bei Tichomirows, um das Wort Gottes zu hören,
und ganz allmählich durchbrach die Wahrheit des Evangeliums die Rinde
der veralteten Vorurteile eines rein äußerlichen Formenglaubens.
Viele fanden in Christus ihren persönlichen Heiland und beschlossen,
ihr Leben Ihm ganz zu weihen . . .
Da brach eine neue Prüfung herein . . . Der Priester wurde erregt
und brachte die Polizei der ganzen Umgebung auf die Beine, indem er angab,
es sei ein Sträfling hergekommen, der alle Grundfesten des prawoslawischen
Glaubens im Volke erschüttere, und wenn die Behörden nicht eingreifen
würden, dann liefen die Grundfesten des Staates Gefahr, durch diese
neue Lehre erschüttert zu werden. Des Nachts erschien in der Wohnung
Tichomirows ein Schutzmann und führte Pawel zum Vorsteher der Landespolizei.
Am nächsten Morgen kamen der Untersuchungsrichter und der Priester
in die Kanzlei des Vorstehers. Nach dem Verhör wurde ein Protokoll
aufgestellt, das auf Verführung lautete. Bis zur Gerichtsverhandlung
brachte man Tichomirow unter polizeilicher Aufsicht ins Kreisgefängnis.
Schura grämte sich sehr um ihren Bruder. Sie musste nach Sibirien
zurückkehren, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben, da der Besuch
der Verhafteten vor der Gerichtsverhandlung nicht gestattet war. Nach
einigen Tagen schrieb Pascha an seine Schwester Schura! Ich bitte Dich,
trauere nicht um mich . . .ich bin sehr froh, dass ich nicht mehr als
Räuber und Dieb im Gefängnis sitze, sondern als Christ gewürdigt
bin, an den Leiden meines Heilandes teilzuhaben. Ich freue mich hierüber
unbeschreiblich, da im Gefängnis viele verlorene Seelen nach der
Erlösung dürsten, die ich ihnen in Christus bringen darf. Verzage
nicht, sondern bete für mich. Ich küsse Dich, Deinen Mann und
Eure Kinderchen."
Bis zur Gerichtsverhandlung verstrich ein ganzes Jahr, und Pawel war schon
in drei verschiedenen Gefängnissen gewesen. Überall predigte
er von Christus und überall entschieden sich Sünder für
den Weg des Heils. Die Gefängnispriester baten die Behörde,
sie von diesem Ketzer zu befreien, mit dem ein Auskommen unmöglich
sei. Das Gericht verurteilte Tichomirow zu zweijähriger Verbannung
in das Gouvernement Jeninneisk wegen "Verführung der Rechtgläubigen
zu Stundismus". Es hatte sich herausgestellt, dass allein in Sosnowska
an hundert Seelen aufgehört hatten, zum Priester zur Beichte zu kommen
und die Heiligenbilder anzubeten.
Bald nach der Verurteilung wurde Pawel über verschiedene Transportgefängnisse
wieder in das ihm so bekannte Sibirien gebracht. Es gelang ihm, Schura
und ihren Mann zu benachrichtigen, mit welchem Zuge er die ihnen am nächsten
gelegene Eisenbahnstation passieren würde, und sie kamen dorthin,
um ihn noch einmal zu sehen. Sie durften ihn nur durch das Gitterfenster
des Arrestantenwagens begrüßen. Schura weinte, denn ihr Bruder
tat ihr leid; er aber schaute sie freudig lächelnd an und gab dadurch
zu verstehen, dass er froh war, für Christus leiden zu dürfen.
Auch diese beiden Jahre vergingen. Das Leben Tichomirows in der Verbannung
spiegelte überall das reine und heilige Leben Christi wider, was
auch die Ursache des Erfolges seines Zeugnisses war. Während dieser
zwei Jahre stand er im Briefwechsel mit Schura und auch mit Solowjew.
Der teilte ihm mit, dass er im Heimatdorf geblieben sei, wo die kleine
Gemeinde der Evangeliums-Christen ihn brüderlich aufgenommen habe
und dass er in ihr in großem Segen arbeiten dürfe. Seine Mutter
war noch am Leben und sehr glücklich darüber, dass Gott ihre
Gebete erhört und ihren Sohn gerettet hatte. Jetzt beschloss sie
fröhlich und zufrieden ihren Lebensabend bei ihrem Sohn, einem ehrlichen
und enthaltsamen Christen.
Nach Ablauf der Verbannungszeit fuhr Pascha zu seiner Schwester, fest
entschlossen, sein ganzes Leben der Rettung verlorener Sünder zu
widmen. Er wollte sich nicht durch die Ehe binden, damit ihn nichts an
der Verkündigung der Heilsbotschaft Gottes an die Menschen hindere,
jenes Evangelium, das ihn und viele Verlorene mit ihm völlig umgestaltet
hatte., Er arbeitete in der Gemeinde jener Stadt, in der Schura lebte
und auch an anderen Orten Sibiriens, seine ständige Wohnung aber
hatte er bei seiner Schwester, worüber sich auch sein Schwager freute.
Schura begleitete ihren Bruder oft auf seinen Wegen in die Dörfer
als seine Mitarbeiterin des Herrn. Das geistliche Leben der Gemeinde in
ihrer Stadt blühte.
Auf die erste Seite jenes Neuen Testamentes, das Pawel Tichomirow einst
dem von ihm erschlagenen Bruder abgenommen hatte, schrieb er folgende
Worte: "Vergib mir um Christi willen, teurer Bruder; ich tötete
dich, da ich selbst tot war in meinen Sünden. Der Herr hat mir vergeben
und mich zu neuem Leben erweckt. Dein unzeitiger leiblicher Tod hat nicht
nur mich, sondern mit mir auch viele andere Sünder und Mörder
zum ewigen Leben geführt. Dein Neues Testament hat wie ein lebendiger
Strom mein hartes Herz erweicht und meinen Durst gestillt und fließt
noch weiter, auch andere Seelen erquickend und belebend. Gepriesen sei
dafür dein und mein Gott! Amen!"
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